Eine Krankenschwester, die vor Erschöpfung auf ihrem Schreibtisch einschläft, Ärzt*innen, die aufgrund mangelnder Intensivversorgungskapazitäten entscheiden müssen, wen sie am Leben erhalten oder Altenheime, in denen Heimbewohner*innen zurückgelassen wurden – das waren nicht nur dramatische Momentaufnahmen der weltweiten Corona-Pandemie, sondern auch Resultate einer Ökonomisierung des Gesundheitswesens.
Mit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist ein Wandel von gemeinnützigen hin zu ökonomischen Denk- und Handlungsweisen im Gesundheitssystem verbunden (vgl. Naegler & Wehkamp 2018). In Europa setzt die Ökonomisierung des Gesundheitswesens in den 1980er Jahren ein: Hier kann beobachtet werden, wie Angehörige des Gesundheitssystems durch einen staatlich inszenierten Wettbewerb um knappe Ressourcen zunehmend gezwungen werden unternehmerisch zu handeln (vgl. Mosebach 2003). Damit halten auch Managementmethoden wie Leistungsvereinbarungen zwischen Ärzt*innen und Krankenhausleitung Einzug (ebd.). Fortan bildet Effizienzsteigerung eine wesentliche Entscheidungsgrundlage im Gesundheitssystem. Das Paradoxe daran: Krankenhäuser werden wie privatwirtschaftliche Unternehmen geführt, obwohl sie durch die duale Finanzierung aus Krankenkassenbeiträgen und Steuergeldern dem Gemeinwohl unterliegen. Auch der Wettbewerb um öffentliche und private Fördermittel zwischen Krankenhäusern in Deutschland sorgt für eine Transformation von gemeinnützigen zu unternehmerischen Kliniken (vgl. Ärzte Zeitung 2020). In diesem Zusammenhang sank die Zahl der Krankenhausbetten zwischen 1991 und 2017 von 665.565 auf 497.182 (vgl. Destatis 2018: 11).
Rechtssicherheit erhält die Reorganisation des Gesundheitswesens durch das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG). Im KHG wird festgehalten, dass Krankenhausleistungen pauschalisierend und leistungsorientiert vergütet werden. Leistung zeigen bedeutet, möglichst viele Patient*innen mit einer hohen Bewertungsrelation zu behandeln, denn je höher die Fallpauschale und die Bewertungsrelation ausfallen, desto mehr Geld bekommt eine Klinik pro Patient*in. Besonders hohe Bewertungsrelationen gibt es für schwer zu behandelnde Patient*innen, bei denen beispielsweise eine Herztransplantation durchgeführt werden muss und die unter Begleiterkrankungen wie Diabetes leiden. Dahingehend werden dem Klinikmanagement seitens des Staates auch erweiterte Entscheidungsbefugnisse über Personal, Finanzierung und Profil der Kliniken eingeräumt. Gleichzeitig schwindet mit der zunehmenden unternehmerisch-managerialen Autonomie von Kliniken eine staatliche bedarfsorientierte Finanzierung, womit 2020 in Deutschlands Krankenhäusern mindestens drei Milliarden Euro für bestandserhaltende Investitionsmaßnahmen fehlen (vgl. Deutsche Krankenhausgesellschaft et. al. 2020). Die Folgen der Ökonomisierung des Gesundheitswesens sind vielseitig – sie erstrecken sich von überflüssigen Hüft-Operationen bis hin zu einer mangelnden medizinischen Grundversorgung unter teilweise prekären Arbeitsbedingungen (vgl. Hemschemeier 2015). Leidtragende dieser Entwicklung sind Patient*innen und Angestellte (vgl. Krampe 2003). Seitens des Klinikpersonals entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen professioneller Arbeitsethik und Profitorientierung (vgl. Naegler & Wehkamp 2018).
Die Corona-Pandemie lässt die Effekte der Ökonomisierung des Gesundheitswesens wie in einem Brennglas erscheinen, wie sich unlängst am Umgang mit einem Covid-19-Ausbruch im Ernst von Bergmann Klinikum in Potsdam zeigte (vgl. Schicketanz 2020). Insbesondere in der intensivmedizinischen Versorgung wird die Transformation von gemeinnützigen zu unternehmerischen Kliniken momentan sehr sichtbar: Hier wurden unter dem Primat des Gesundheitsmarktes in den letzten Jahren die Kosten durch Personal- und Ausstattungsabbau gesenkt, denn leere Betten und überflüssiges Personal stellen – in einer ökonomischen Lesart – Überkapazitäten dar. Immerhin gibt es in Deutschland ca. 34 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Spanien, wo im Durchschnitt neun oder Italien, wo acht Intensivbetten pro 100.000 Einwohner zur Verfügung stehen, fallen die Effekte der Ökonomisierung zur Zeit der Corona-Pandemie in Deutschland weniger drastisch aus (Tagesschau 2020). Dahingehend dürften die Mängel des britischen Gesundheitswesens, wo es durchschnittlich nur sechs Intensivbetten pro 100.000 Einwohner gibt, noch mehr Todesopfer fordern als in Italien, trotz einer jüngeren Bevölkerung (Schulz 2020).
Damit stellt der Abbau von lebenswichtigen (Über-)Kapazitäten in Krankenhäusern einen wesentlichen Faktor für die Zahl der Todesfälle durch Covid-19 dar. Insbesondere in Großbritannien oder den USA, wo die Ökonomisierung des Gesundheitswesens noch konsequenter vorangetrieben wurde als in Deutschland, drohen schlanke Gesundheitssysteme unter der Last der Corona-Pandemie just in time zu kollabieren (vgl. Interlandi 2020; Kahlweit 2020). Aber auch hierzulande wird deutlich, dass die Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu problematischen Engpässen beispielsweise bei der Schutzkleidung oder der Ausstattung mit Medikamenten geführt hat. Diese soziologische Gegenwartsdiagnose ist mit dem Appell an die Politik verbunden, öffentliche Teilbereiche – insbesondere die zur kritischen Infrastruktur gehörenden – in Zukunft nicht primär mit marktwirtschaftlichen Wettbewerbsanreizen zu konfrontieren, sondern bedarfsorientiert zu finanzieren und ausreichend Kapazitäten für derartige Krisen anzulegen. So können Leben gerettet werden.
Alexander Lenk