Der Abend des 14. März 2020 präsentiert sich wie die Szene eines Romans: Ein japanisches Restaurant am Quai des Bateliers in Straßburg, eng bestuhlt und bis zum letzten Tisch ausgefüllt. Hinter der Bar eine halboffene Küche in der eine Hand voll Köche ihr Bestes tun, mit der Bestellung mitzuhalten. Die Bedienung schiebt sich von einem Tisch zum nächsten. Gegen 22:00 Uhr kommt auf den Handys über diverse Newsapps die Nachricht an, dass ab Mitternacht alle Gastronomiebetriebe geschlossen werden. Die Art der Kommunikation zeichnet sich hypermodern gegen die alltägliche Szene ab. Eine Freundin macht ein Bild mit der vollen Bar im Hintergrund und dem Bildschirm mit der Nachricht im Vordergrund. Ein paar Witze fallen, an den umstehenden Tischen lacht man, manche schütteln den Kopf, wir zahlen unsere Rechnungen und ziehen weiter in eine Vinothek um die Ecke. Die Phrase der Woche echot um uns: „Jusqu’à nouvel ordre“ – Bis auf weiteres. Später an der Straßenbahnhaltestelle wirkt die langsam aussterbende Innenstadt aber doch gespenstig. In der Bahn ein oder zwei Leute, die mit Koffern in Richtung deutsche Grenze fahren. Ich steige vorher aus.

Die Wochen zuvor waren gekennzeichnet von einem langsamen Näherrücken der Nachrichten. Freunde aus Italien berichteten von ihren Familien in den roten Zonen, die nicht mehr das Haus verlassen könnten. Am 17. Februar versammelten sich im ca. 90 km entfernten Mulhouse über 2.000 Menschen für ein religiöses Fest, was dazu führte, dass man schon am 06. März dort nicht mehr in der Lage war, alle Infektionsketten nachzuverfolgen. Die Region Haut-Rhin wird als erstes abgeriegelt, aber natürlich schwappte es mit den Pendlern über nach Bas-Rhin, auf die sonnigen Terrassen, auf denen wir nach der ersten Ansprache Macrons am 12. März auf E-Mails und Anrufe warten: Von unseren Professoren und Koordinatoren, vom Auswärtigen Amt, von unseren Eltern und Freunden. Die Italiener versuchten alle die letzten Flüge von Frankfurt am Main zu bekommen. Bereits seit Wochen hatten sie nicht in ihre Heimatstädte ein- und wieder ausreisen dürfen, verpassten Geburtstage, Abschlussfeiern und Aufnahmeprüfungen. Belgien rief alle Studierenden zurück in ihre Heimatstädte.
Am Sonntag erhalten wir die Nachricht, dass ab Montagmorgen die deutsche Grenze zu sein wird und treffen die Entscheidung erstmal zu bleiben.
„Nous sommes en guerre“
Auf die Lokalwahlen an dem beschriebenen Wochenende folgt der Montagabend mit der erwarteten Fernsehansprache Macrons. Mit Pathos, Vokabular und Aussagen, wie man sich in Deutschland seit vielen Jahrzehnten nicht mehr beobachten konnten, erklärt der Präsident dem Virus den Krieg und der Nation den Hausarrest. Er spricht davon, dass es irrsinnig sei, die Versorgung des täglichen Lebens allein einem Markt zu überlassen, beschwört europäische Einigkeit und nationalen Zusammenhalt. Gerade die Kriegserklärung sorgt in den deutschen Medien für Irritation. Vor einem Touchscreen in meinem Wohnheimzimmer überlege ich, wie es wohl wäre, wenn der Gegner doch nicht ein Stück RNA, sondern eine andere Nation wäre. Das Gefühl passt nicht zu der Technik in meinen Händen. Kriegserklärungen scheinen eher einer Welt aus Schwarzweißaufnahmen und Radioschaltungen anzugehören.
Das Militär kommt trotz fehlendem Gegner zum Einsatz: In Mulhouse errichtet man in den folgenden Tagen ein militärisches Notfallkrankenhaus. Von nun an darf das Haus nur noch allein oder mit Mitbewohnern verlassen werden, nur die Lebensmittelgeschäfte und Apotheken bleiben offen. Wo es möglich ist, werden Parks und öffentliche Flächen abgeschlossen. Über einen Bildschirm im Eingangsbereich des Wohnheims läuft eine Schleife aus Bildern mit Notfallnummern, Abstandsregeln und Hygieneanweisungen. Nach einigen Tagen braucht man schriftliche Passierscheine um das Haus zu verlassen, die gerade in der Innenstadt von der Polizei kontrolliert werden. Der Radius um den Wohnsitz, der für Jogging und Spaziergänge zugelassen wird, verkürzt sich binnen kürzester Zeit auf vier und dann auf einen Kilometer. Das Ganze ist nur einmal am Tag und dann nur noch allein oder in Begleitung der eigenen Kinder unter 16 erlaubt. Besuche sind grundsätzlich untersagt, Hilfe nur für Familienangehörige gestattet.
Es ist ein beklemmendes Gefühl, staatliche Macht so direkt zu spüren. Das Stück Papier, was den Gang nach draußen rechtfertigt wird immer ausführlicher. Geburtsort, Wohnadresse, genauer Grund, Datum, Uhrzeit, Unterschrift müssen gegeben sein – Ausweis nicht vergessen, damit es abgeglichen werden kann. Vergessen kostet 138€, mehrfacher Verstoß kann nach Ermessen der Polizei zu Anklage und Freiheitsstrafe führen. Überhaupt liegt vieles im Ermessen der Behörden: Was gilt als Hilfe für Angehörige? Gilt die 1-km-Grenze auch für Einkäufe oder nur für sportliche Betätigungen? Kann man sich das Attest auch handschriftlich ausstellen und wenn ja, gilt Bundstift als zulässiges Schreibmaterial? Die Judikative muss sich vermehrt mit Problemen beschäftigen, die sie so seit langer Zeit nicht mehr gesehen hat. Raphael Kempf schreibt in einem Artikel für Maiausgabe der Le Monde Diplomatique, dass die Verordnung des Präsidenten vom 26. März, welche es ermöglicht, dass Häftlinge nach Ablauf ihrer Haft weiterhin in den entsprechenden Anstalten bleiben müssen, eine Einschränkung der bürgerlichen Freiheit sei, die Frankreich so seit dem revolutionären Terror 1793 nicht mehr kannte.
Für die nächsten Wochen sehe ich ca. 10 Straßen und zwei Leute von Angesicht zu Angesicht, verbringe die meiste Zeit am Schreibtisch, denn die Klausuren finden dank Digitalisierung dennoch statt. In bestimmten Momenten funktioniert die sonst recht langsame französische Bürokratie erstaunlich schnell: Innerhalb weniger Tage verstärkt die Universität nicht nur ihre medizinische Beratung, sondern auch die psychologische. Nach einigen Wochen steht eine Finanzierung für Studierende, die sich keine Internetverbindung oder Geräte für die Onlinelehre leisten können. Das Studierendenwerk organisiert eine Notversorgung mit Lebensmitteln und bietet Übergangslösungen für die Bewohner der Wohnheime an, die sich die Miete aufgrund finanzieller Ausfälle nicht mehr leisten können. Mit der Phase der Lockerungen ab dem 11. Mai bekommen die Bürger Straßburgs eine Maske zugeschickt. Im Gegensatz zu Deutschland scheint auch die Bevölkerung mehr Zutrauen in ihre Versorgungslage zu haben, jedenfalls wird sich weder um Nudeln noch um Toilettenpapier gestritten.
Differenz und Widersprüchlichkeit
Es kollidiert private Wahrnehmung mit dem größeren Bild der globalen Lage. Freunde und Angehörige ergänzen das Bild, welches mich über die diversen deutschen Medien erreicht. Es scheint in den unterschiedlichen Bundesländern einen Dschungel aus Experten, Berichten und Verordnungen zu geben. Ich sehe das Gesicht Söders in der Nachrichtenapp öfter als das entfernt lebender Freunde auf Skype. Ich ertappe mich dabei, dass ich ganz froh bin, die Diskussionen zu Abiturprüfungen, Maskenpflicht, Kontaktsperre und Bußgeldern von außen beobachten zu können, ohne dass es an meiner Situation gravierend etwas ändert.
In Frankreich gelten die Regeln, die für die Départements in Grand Est und Île-de-France gemacht werden, auch für die ländlichen Gebiete, all das was man in Pariser Arroganz gerne als Province abtut. Die Strände in der Bretagne werden ebenso gesperrt und überwacht wie die Parks der Hauptstadt. Bewohner von Dörfern, die keinen einzigen Patienten gesehen haben, dürfen ebenso wenig vor ihre Türen wie die Einwohner Mulhouses, die von ihren Fenstern auf die Zelte der Notfallkrankenhäuser sehen können. Straßen und Plätze liegen in diesem Frühjahr verwaist vor verschlossenen Türen. Die innenpolitischen Themen des Winters sind binnen weniger Tage verblasst, sämtliche Reformpläne der Regierung vertagt, die entsprechenden Proteste und Streiks ebenfalls. Viel zu bestreiken gibt es ohnehin nicht mehr. Die Hälfte aller Beschäftigten war in Firmen tätig, die im März weitgehend ihren Betrieb reduzieren mussten. Während die oberen Schichten verstärkt auf Telearbeit umstiegen, mussten Arbeiter weiterhin in die Fabriken oder Dienstleistungsunternehmen gehen oder eben größere Einschnitte in Kauf nehmen. Das BIP sank dementsprechend im ersten Quartal um 5,3%.
Es gelten vielleicht dieselben Regeln für alle, aber es trifft die einen härter als die anderen: Die Pariser Bourgeoisie flieht aus ihren engen Stadtwohnungen auf die Zweitwohnsitze, was im Übrigen nur über die Auswertung von Bewegungsprofile der Handydaten durch die entsprechenden Anbieter publik wird. Wer sich das allerdings nicht leisten kann, muss in seinen teilweise winzigen Zimmern und überfüllten Wohnungen in der Hauptstadt ausharren, wo das Joggen irgendwann nur noch nach 19 Uhr erlaubt ist. Vor unserem Wohnheim gibt es eine Parkplatzfläche auf die man sich setzten kann, wenn einem die 9qm zu eng werden. Freunde fragen Nachbarn, ob sie deren Balkon nutzen dürfen.

Nach meiner Rückkehr nach Deutschland empfinde ich das Leben hier oft als widersprüchlich. In der Schlange im Supermarkt stehe ich mit 1,5m Abstand zum Vordermann, aber auf gleicher Höhe direkt neben dem Kunden an der Nebenkasse. Menschen erzählen mir von ihren Firmen, wo sie zwar an Arbeitsplätzen in getrennten Räumen arbeiten sollen, aber mittags in der Kantine zusammensitzen. In dem ICE mit dem ich zurück in Richtung Berlin fahre, muss ich keine Maske aufsetzten, in der Regionalbahn hingegen schon. Mit wie vielen Menschen ich mich treffen kann, hängt von meinem Aufenthaltsort ab, ebenso wie die Bußgeldauflagen bei Verstoß gegen die lokal geltenden Auflagen. Die Kinos in Leipzig bleiben im Juni geschlossen, während man in Halle bereits wieder den Filmabend außerhalb der eigenen vier Wände genießen kann. Klare Anweisungen von Behörden erleichtern viele moralische Bedenken hinsichtlich des eigenen Verhaltens, zugleich freue ich mich in Deutschland darüber, keine Erlaubnis ausfüllen zu müssen, wenn ich zum Supermarkt will.
Die Ungleichheiten ähneln denen in Frankreich: massenhafte Arbeitseinschränkungen und Arbeitsplatzverlust für Normalverdiener, hohe gesundheitliche Risiken für Beschäftige im Handel, im Gesundheitswesen und in der Pflege, Telearbeit für die Hochqualifizierten, Benachteiligung Allein-erziehender, häusliche Gewalt und Bildungsungleichheiten. Mehrmals denke ich, dass man die Bedrohung in Deutschland unterschätzt und zugleich halte ich mindestens ein Drittel der französischen Vorschriften für übertrieben. Mir widerstrebt der Flickenteppich deutscher Verordnungen und Zuständigkeiten, aber das Ausschalten des öffentlichen Raums in weniger als vier Tagen in Frankreich war gespenstig und beängstigend zu erleben. Die Zeit, die man sich in Deutschland nimmt, um Entscheidungen zu treffen, ist ein Luxus, den sich Frankreich mit seinen zu Beginn der Krise gerade einmal 5000 Intensivbetten auf etwa 67 Mio. Einwohner nicht leisten kann. Nach fast vier Monaten Pandemie die Zahlen (Stand 22.06.20): 8.897 Toten in Deutschland und 29.643 in Frankreich bei ähnlichen Infektionszahlen. Dem unitären Staat bringt seine schnellere und direktere Handlungsmacht wenig, wenn die Probleme so viel größer sind. Ebenso wie man nur spekulieren kann, wie gut der deutsche Föderalismus wirklich reagiert hätte, hätte er das französische Blatt ausgeteilt bekommen.

Ich erinnere mich an eine weitere Szene aus der Anfangszeit zurück: Am Morgen des 16. März führte uns ein längerer Spaziergang an der Schnellstraße im Süden der Stadt vorbei. Orangene Buchstaben auf einer schwarzen Leuchttafel über der Fahrbahn verkündeten die Grenzschließung. Ich dachte damals daran, dass ich in meinem Leben noch vor keiner verschlossenen Grenze gestanden hatte. An dem Abend verkündete Macron, dass die Welt nach dem Virus nicht dieselbe sein würde wie zuvor, dass man die eigenen Systeme jetzt überdenken müsse. In meinem Kopf gibt es seitdem eine Liste diffuser Ideen und eine andere mit dunklen Vorahnungen. Beide füllten sich in den nachfolgenden Wochen mit neuen Eindrücken, letztere schneller als erstere.
Claudia Buder