Ein Europa von Morgen oder Gestern?

 Als am 10. Dezember 2020 nach langen Verhandlungen endlich ein Kompromiss zwischen den EU-25, Ungarn und Polen über den Rechtsstaatsmechanismus getroffen wurde, war die Erleichterung vielerorts groß, da damit die aktuell dringend benötigten Corona-Hilfsmittel der EU verfügbar wurden. Doch auch dieser geglückte Drahtseilakt zeigt einmal mehr, wie schwer sich die EU mit größeren Interessenkonflikten tut. Welche gravierenden Schwachstellen haben die Verhandlungen mit Ungarn und Polen offengelegt und was heißt das für weitere Konflikte und anstehende Zukunftsfragen?

Eigenaufnahme von S. Dilßner

 Die ursprüngliche Klausel zu Rechtsstaatlichkeit war sehr allgemein gefasst und wurde als Meilenstein zum Schutz der Werte der Europäischen Union betitelt. Es ging dabei um den Missbrauch von EU-Mitteln, sowie um Verstöße gegen die Unabhängigkeit der Justiz. Unter diesem Aspekt sah sich besonders Polen gefährdet, da die Regierung erst Ende 2019 eine umstrittene Justizreform durchgesetzt hatte, und auch in Ungarn ist die Rechtsstaatlichkeit immer mehr gefährdet. Durch den ausgehandelten Kompromiss ist es für Polen und Ungarn nun möglich, die Klausel durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen. Die Folge ist eine mindestens zweijährige Aussetzung des Beschlusses, was die antidemokratischen Bestrebungen in Polen und Ungarn weiter ungestraft lässt und besonders Viktor Orbán bei den anstehenden Parlamentswahlen in die Karten spielen dürfte. Auch wenn es formal so klingen mag, als wären die anderen 25 Staaten hier einer Meinung, so senden die jüngsten Ereignisse auch im Kontext des Brexits eine Nachricht an alle anderen Mitgliedsstaaten: Geld und Wirtschaft vor Werten. 

Das Steinchen im Getriebe

Das Beispiel des Vetos von Ungarn/Polen zeigt deutlich den Konstruktionsfehler in den Sanktionswerkzeugen der Union. So kann der Artikel 7, welcher dazu gedacht ist, Verstöße gegen die in Art. 2 genannten Grundsätze zu ahnden, letzten Endes nur einstimmig im Europäischen Rat durchgesetzt werden. Dieses Prinzip der Einstimmigkeit überhöht die Einflussmöglichkeiten einzelner Staaten und lähmt die Problemlösung im Ganzen.

Um die Resilienz der EU gegenüber antidemokratischen Angriffen zu stärken, muss der Rechtsstaatsmechanismus nach seiner Prüfung umgehend ausgebaut und eine Palette von Sanktionsmöglichkeiten erarbeitet werden, die auch tatsächlich bindend und einsetzbar sind. Indem die EU die Einstimmigkeit gegen eine absolute Mehrheit tauscht kann sie einen Schritt Richtung Supranationalität gehen vor der sie sich schon solange scheut. Beides ist nötig, um eine echte Gemeinschaft zu schaffen, die strukturell für die Probleme der Zukunft gewappnet ist. 

Photo by Markus Spiske on Pexels.com

Aufbruch! Doch wie?

Vor uns Europäer:innen liegen also schwer lösbare Aufgaben, da kein Mitgliedsstaat seine Souveränität beschnitten sehen will. Sollte die Führungsspitze der EU den vorgeschlagenen Wandel anstreben, wird in jedem Land der Union starker Rückhalt vonnöten sein. Das Fundament für diese Zukunftsvision könnte man in den jungen Menschen dieses Kontinents finden, die mehrheitlich hinter der Idee von freiheitlicher Demokratie stehen und ihre Identität vermehrt in Europa als im Nationalstaat gefunden haben. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass das Narrativ der politikverdrossenen Jugend überholt ist und sie durchaus in der Lage ist Bewegungen aufzubauen die sowohl Druck als auch Einfluss auf das bestehende System ausüben. Bestes Beispiel dafür sind die Proteste von „Fridays for Future“, die es geschafft haben, das globale Problem des Klimawandels im Bewusstsein der Allgemeinheit zu verankern und ihm politische Relevanz zu verleihen. Nimmt man also diese Menschen als Partner:innen wahr und nutzt ihr politisches Potenzial, anstatt sie als weltfremde Utopisten:innen zu verlachen, so kann der Aufbruch in ein besseres Morgen gelingen.

Am Ende entscheidend ist vor allem eines: anzuerkennen, dass der Konflikt um die Rechtsstaatlichkeit nur ein Symptom eines viel größeren Problems darstellt. Die Welt verändert sich rasant und verlangt nach Entscheidungen unsererseits. Rechtspopulismus und Nationalismus ist nicht nur in Polen und Ungarn, sondern  in den meisten europäischen Ländern wieder salonfähig. Diese rückwärtsgewandte Politik stellt nicht nur eine Gefahr für unsere demokratischen Grundwerte, und die Freiheit aller dar, sondern kostet auch regelmäßig Menschenleben. Die EU muss sich auf ein Kräftemessen mit diesen reaktionären Kontrahent:innen einlassen und vor allem muss sie es immer wieder gewinnen. Sie sollte sich und alle jene die sie repräsentiert daran erinnern, dass sie einst zum Zwecke der Völkerverständigung und Friedenssicherung gegründet wurde. Dass die grundlegendsten Werte wie Rechtsstaatlichkeit oder unabhängige Justiz bereits auf dem Verhandlungstisch liegen, zeigt uns einmal mehr, wie dramatisch die Situation bereits ist, ohne überhaupt die wirklich großen und spaltenden Probleme wie Migration, wachsende Ungleichheit und Klimawandel auch nur in den Blick genommen zu haben. Daher gilt es keine Zeit mehr zu verlieren bei der Suche nach einem Weg in die Zukunft, denn anders als die Demagog:innen unserer Gegenwart behaupten gibt es kein Zurück mehr.

Christopher Fritz, Carla van der Minde & Simeon Raban Dilßner

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