Was der Nussknacker mit kultureller Teilhabe zu tun hat

Gänsehaut-Momente, wenn der Vorhang aufgeht, die Musik erklingt, die Balletttänzer*innen im Nussknacker über die Bühne springen, eine expressionistische Ausstellung eröffnet wird oder ein*e Kabarettist*in sein/ihr Publikum zum Lachen bringt. Solche Erfahrungen sammelt man bei vielen kulturellen Veranstaltungen. Und oft teilt man diese mit der Familie, Freunden oder der Schulklasse. Die Kultur als etwas Menschengemachtes bringt ästhetischen Sinn in die Welt. Sie erweckt Neugier und Leidenschaft aber vielleicht auch Unverständnis oder Ablehnung. Die Auseinandersetzung mit ihr ist elementar für das Menschsein. Lange galt die Teilhabe an Kultur als „elitäres Gut“ und war der Mittel- & Oberschicht vorbehalten. Das Bürgertum hat den Begriff der Hochkultur so privilegiert, dass es für Menschen, die nicht die entsprechende Bildung hatten, kaum möglich war einen Zugang zu finden. Dies hat sich im Laufe der Zeit etwas gewandelt. Die Vermittlung von Kultur hat in frühen Stadien der Bildung (z.B. Schulen) Einzug erhalten. Heute sind kulturelle Veranstaltungen gemeinschaftliche Erlebnisse, die verbinden, aber auch aufbrechen oder Verständnis schaffen, wo sich Fronten gebildet haben. Vor diesem Hintergrund haben wir uns in diesem Beitrag gefragt, was kulturelle Teilhabe bedeutet und welchen Wert sie auf der menschlichen Ebene hat?

Um dieser Frage nachzugehen, haben wir ein Interview mit Angela Meyenburg, Gründerin und Geschäftsführerin von KulturLeben-Berlin, geführt. KulturLeben ist ein gemeinnütziger Verein, der einen kostenfreien Zugang zu kulturellen Veranstaltungen ermöglicht. Über 450 Kultureinrichtungen stellen nicht verkaufte Karten zur Verfügung, die dann an über 30.000 Hauptstädter*innen vermittelt werden, die sonst aus verschiedensten Gründen nicht am kulturellen Leben Berlins teilnehmen können. Pro Monat werden so im Schnitt mehr als 4.000 Kulturplätze vermittelt. Um eine weitere Perspektive zu beleuchten, haben wir zudem mit einem Gast von KulturLeben gesprochen. Ute Fialski besucht seit sieben Jahren regelmäßig Veranstaltungen von und mit KulturLeben.

Wir haben Frau Meyenburg nach der Intention hinter der Gründung ihres Vereins gefragt. Ihre Antwort war prägnant: „Ein Blick in die Museen Deutschlands zeigt klar, das Publikum ist alles andere als durchmischt. Besonders Menschen mit geringem Einkommen sind dort eher selten anzutreffen.“ Der Grund schien für uns zunächst klar auf der Hand zu liegen: Sie haben nicht genügend Geld, um sich den Eintritt zu leisten. „Nein“, sagte Frau Meyenburg, „es ist nicht nur das Geld“. Menschen unter einer bestimmten Einkommensgrenze haben mit dem berlinpass in vielen Freizeiteinrichtungen freien oder vergünstigten Eintritt. „Es ist die fehlende Erfahrung“. Damit meint sie, dass Menschen eher dann Museen, Ausstellungen und Aufführungen besuchen, wenn sie bereits Begegnungen mit der kulturellen Landschaft hatten und sich eine Meinung bilden konnten. Wenn man jedoch wenig Erfahrungen in diesem Bereich gesammelt hat, braucht man manchmal jemanden, der sagt „Komm, wir schauen uns das mal an.“ An Erfahrung mangelte es Frau Fialski weniger. Sie sei schon immer ein unternehmungslustiger Mensch gewesen. Allerdings habe ihr irgendwann einfach das Geld gefehlt, um kulturelle Veranstaltungen besuchen zu können. Deshalb schätze sie KulturLeben so sehr. Der Verein mit seinem vielfältigen Angebot ermöglicht ihr, sich auszuprobieren und Neues zu entdecken, wie zum Beispiel die klassische Musik. Sie habe zwar vorher schon Interesse daran gehabt, sei sich aber nicht sicher gewesen, ob es das viele Geld wert ist. Dank KulturLeben habe sie inzwischen ihre Liebe dazu entdeckt. „Ich erinnere mich gerne an die erste Veranstaltung mit KulturLeben. Das war mein erstes klassisches Konzert vom Schöneberger Kammerorchester und hat mir so gut gefallen, dass ich seitdem immer hingehe.“ Sie verbringt gerne schöne Abende mit Freund*innen und tauscht sich über das Erlebte aus, anstatt immer nur Zuhause vor dem Fernseher zu sitzen. Als Gast von KulturLeben wird Frau Fialski über neue Programme informiert, kann neue Veranstaltungsorte kennenlernen, Vorlieben entdecken, in einem Museum auch mal eine Führung mitmachen und das alles auch noch mit einer weiteren Person erleben. Viele Möglichkeiten, die der berlinpass nicht bietet.

Mit freundlicher Genehmigung. Fotografin: Franziska Strauss

Neben fehlender Erfahrung macht uns Frau Mayenburg auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Menschen mit schweren Behinderungen, jene mit sozialen oder psychischen Problemen und auch Geflüchtete stehen noch vor ganz anderen Herausforderungen. Sie fühlen sich oft nicht zugehörig, sondern ausgegrenzt, stigmatisiert, manchmal sogar bevormundet oder nicht ernst genommen. Ein Gefühl, das auch Frau Fialski uns bestätigt. Bei einer Veranstaltung in der Staats- oder Deutschen Oper würde sie sich fragen: „Kann ich da so hingehen? Was sagen die Leute?“ Der Leitspruch von KulturLeben lautet daher: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben teilzunehmen.“ Denn kulturelle Teilhabe bedeutet nicht nur für Frau Fialski ein Stück Lebensqualität. Sie kann unser aller Leben spannender und interessanter gestalten.

Das vergangene Jahr und die Pandemie haben das kulturelle Leben Berlins stark beeinträchtigt, aber auch neue Möglichkeiten eröffnet. Als unser Gespräch mit Frau Meyenburg auf die veränderte Situation durch Corona kommt, werden wir überrascht: „Unsere Arbeit hat sich durch Corona auch zum Positiven verändert. Plötzlich nehmen Einrichtungen teil, die vorher nicht mitgemacht haben; sogar international.“ KulturLeben hat sein Spektrum erweitert und vermittelt jetzt auch Links zu Aufführungen in Sydney, New York und London. Es hat sich so zum Teil eine inklusivere Situation ergeben. Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen Aufführungen nicht live anschauen konnten, können jetzt über ihren Computer teilhaben. Für Menschen mit Behinderung sind kulturelle Räume nicht zuletzt aufgrund der architektonischen Ausgestaltung schwer zugänglich. Diese Mobilitätshindernisse konnten durch die Verlagerung in den digitalen Raum teilweise abgebaut werden. 

Eigenes Foto der Autorin (Emily Quirmbach)

Auf der anderen Seite sind neue Ungleichheiten zutage getreten. Menschen, denen die Mittel fehlen, den virtuellen Raum zu nutzen, sind ausgeschlossen. Den Künstler*innen fehlt der direkte Kontakt, die Interaktion mit dem Publikum. Frau Meyenburg von KulturLeben prophezeit, dass die kulturelle Landschaft nach der Pandemie anders aussehen werde. Einige Kultureinrichtungen bleiben vermutlich geschlossen, wodurch die kulturelle Armut für alle zunehmen könnte. Doch es werden künftig wahrscheinlich auch mehr digitale Angebote geben, die genutzt werden können. Die Verschiebung von Kultur in den digitalen Raum ist für Frau Fialski direkt spürbar, weil sie keinen eigenen Internet-Zugang hat. Einzig durch den Internet-Stick eines Bekannten könnte sie an Online-Veranstaltungen teilnehmen. Doch diese machen ihr einfach auch weniger Freude. Kulturelle Teilhabe ist für Frau Fialski im Moment nur sehr schwer bis gar nicht möglich. Daher ist es nicht überraschend, dass sie sich sehr auf die Zeit freut, wenn Präsenz-Besuche wieder möglich sind. „Aber“, gibt Frau Fialski zu bedenken, „gleichzeitig habe ich ein bisschen Angst, dass es dort erst einmal auch nichts geben wird“ für sie und andere Menschen mit geringem Einkommen. Schließlich werde es den Einrichtungen zunächst darum gehen, viele Karten zu verkaufen, um wieder auf die Beine zu kommen. Auf unsere Nachfrage, ob sie das als fair empfindet, antwortet Frau Fialski sie verstehe es, weil sie sich bewusst sei, dass die Einrichtungen Geld einspielen müssen, damit sie weiterhin bestehen können. Von staatlicher Seite werde momentan in vielen Bereichen Unterstützung gefordert und es könne nicht gleichzeitig für alles aufgekommen werden. Einschränkungen aufgrund des Einkommens gebe es ja auch nicht nur bei Kultur. Daher könne Frau Fialski damit leben, möglicherweise noch etwas länger darauf zu warten, mit KulturLeben wieder kostenlos Veranstaltungen besuchen zu können.

Was sollte sich also insgesamt verändern damit das Kulturleben Berlins auch Menschen zugänglich ist, die dafür finanzielle oder soziale Hürden überwinden müssen? Vor der Pandemie hätte Frau Meyenburg gesagt, die Arbeit von Bildungseinrichtungen und den Schulen sollten anders organisiert werden. Anstatt nur den Lehrstoff zu vermitteln, sollte es verpflichtend sein, Kinder, unabhängig von ihren Eltern, an Kultur heranzuführen. Sie müssten die Chance bekommen, eigene Erfahrungen zu sammeln und ermutigt werden, sich mit Kunst und Kultur auseinanderzusetzen. Deshalb der Appell: „Kleine Kiez-Bibliotheken müssen erhalten bleiben. Sie sind nicht profitabel, aber für die Bildung der jungen Generation ganz wichtig.“ Frau Fialski wünscht sich auf der politischen Ebene Unterstützung für kleinere Kulturinstitutionen. Sie könne sich vorstellen, Zuschüsse an die Bedingung zu knüpfen, einen Teil der Karten kostenlos oder vergünstigt für Menschen mit geringem Einkommen anzubieten. Von staatlicher Unterstützung soll schließlich jeder profitieren. Im Großen und Ganzen ist Frau Fialski aber ungeheuer dankbar, dass es überhaupt Veranstalter gibt, die günstige oder kostenlose Karten für Menschen mit einem kleinen Geldbeutel zur Verfügung stellen. Frau Meyenburg meint „Es gilt die Schwellen zur Kultur so niedrig wie möglich zu gestalten“. Der Eintritt ist dabei nur eine Sache. Wichtiger noch ist es, die Angst vor Ablehnung zu nehmen und einkommensschwächeren Menschen zu zeigen, dass sie dazugehören und Teil der Gesellschaft sind. Frau Fialski bestätigt, dass sie sich hier und da mehr Toleranz wünsche. Manchmal habe sie das Gefühl, dass andere Besucher sie bei bestimmten Veranstaltungen von oben herab behandeln. Gerade Veranstaltungen, die eher von betuchteren Mitmenschen besucht werden, haben eine niedrigere Toleranzschwelle. Zudem seien einige der großen Häuser nicht bereit, Karte zu spenden. Obwohl gerade diese Einrichtungen für alle nochmal etwas ganz Besonderes wären. Seit dem Ausbruch der Pandemie vor einem Jahr empfindet es Frau Meyenburg als wichtiger denn je, sich die Bedeutung von Kultur bewusst zu machen. Das größte Geschenk für Künstler*innen sollte nicht der Eintritt, sondern ein begeistertes Publikum und der Polylog mit diesem sein. Wenngleich gerade die Kulturbranche in der Pandemie mit Schließung zu kämpfen hat, dürfen wir nicht vergessen, wie wichtig sie für unsere Bildung, Weltoffenheit und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Aus diesem Grund sei es auch Frau Fialskis vorrangiger Wunsch, dass die Kultureinrichtungen wieder auf die Beine kommen. 

Wir sind uns einig, die letzten Pirouetten der Tänzer*innen, die abschließenden Töne des Orchesters, der kurze Moment der Stille nach einem geschlossenen Vorhang, das gedankenverlorene Reißverschluss schließen der Jacke und der Blick zurück zum verlassenen Theater sollten mehr Wertschätzung erhalten. Es gilt, das Bewusstsein für Kultur als wichtiges Bindeglied der Gesellschaft zu fördern. Denn wie eingangs erwähnt, Kultur verbindet, erweckt Neugier, schafft Austausch, Leidenschaft und Begeisterung. Umso mehr sollten wir uns intensiver um kulturelle Teilhabe für alle bemühen. Mit den Worten Richard von Weizsäckers: „Kultur ist kein Luxus, den wir uns leisten oder nach Belieben streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert“.

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