Bildung in der Krise – Wie die Pandemie bestehende Bildungsungleichheiten verschärft

 Im Zuge der Coronakrise wurde viel über Schulschließungen, über abstürzende Online-Lernplattformen, überarbeitete Eltern und die Folgen für Schüler:innen diskutiert, die beim Homeschooling unter den Tisch fallen. Was aber bedeutet die Umstellung auf Online-Unterricht für diese Kinder und ihre Familien?

Als Familienhelfer trifft man in der Regel auf Menschen, die Unterstützung benötigen und sich in einer Lebenslage befinden, die es für sie schwierig macht, am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben teilhaben zu können. In diesem Beitrag stellen wir die Lebenssituation einer solchen Familie vor, die einer der Autor:innen dieses Beitrags zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 begleiten durfte.

Zu der sechsköpfigen Familie Schmidt* zählen neben Mutter und Vater in den Mittdreißigern drei Töchter im Alter von zwei, zwölf und vierzehn Jahren und ein vierjähriger Sohn. Gemeinsam leben sie in einer Dreizimmer-Wohnung im Berliner Umland. Mit den geräumigen Lofts, die in Möbelkatalogen und #stayathome-Kampagnen gezeigt werden, haben die 60m² im Plattenbau wenig zu tun: Jeweils zwei Kinder leben in vollgestellten Kinderzimmern. Die Eltern zwangsläufig im Wohnzimmer, das gleichzeitig als Aufenthaltsraum, Ess-, Arbeits- und Schlafzimmer dienen muss. Demnach stehen jedem Mitglied der sechsköpfigen Familie 10m² zu. Das ist selbst für die Millionenmetropole Berlin, in der jede:r durchschnittlich über 40m² Wohnfläche verfügt, eklatant wenig und insbesondere in Zeiten von Corona belastend.

Diese beengten Umstände waren auf die schwierige ökonomische Lage der Familie zurückzuführen: Beide Elternteile waren zu diesem Zeitpunkt arbeitssuchend und bezogen staatliche Unterstützungsleistungen, welche ihre Existenz sichern sollten. Damit geht es den beiden Elternteilen genauso wie etwas mehr als 200.000 anderen Berliner:innen, die Unterstützungsleistungen nach dem SGB II oder III erhalten. Mit diesem Minimum an finanziellen Mitteln waren keine großen Sprünge möglich. Die Eltern machten in Gesprächen deutlich, dass in ihrer Lage außerplanmäßige Anschaffungen, Familienausflüge, der Besuch von Kultureinrichtungen oder gar Urlaub nur sehr begrenzt oder schlicht unmöglich waren. Häufig mussten somit Entscheidungen über den Einsatz des Einkommens getroffen werden: Entschieden sie sich für das eine, bedeutete das schließlich häufig den Verzicht auf etwas anderes. Die Familie hatte sich mit ihrer Situation arrangiert und ging nicht davon aus, dass sie daran noch etwas ändern könnte.

Zu dieser ohnehin schon prekären Lebenslage kamen nun also im März 2020 noch die coronabedingten Erschwernisse hinzu. Wegen der Schulschließungen mussten die Kinder zu Hause betreut und beschult werden. Für die Familie war dies nicht nur angesichts der beengten Wohnverhältnisse und in Ermangelung eines ruhigen Arbeitsplatzes eine Herausforderung, sondern auch in Hinblick auf den Bildungshintergrund der Eltern. Beide hatten einen Hauptschulabschluss und mussten ihre vier Kinder – ein jedes mit sozialpädagogischem Förderbedarf – beschulen. Beide Elternteile gaben sich viel Mühe den Kindern gerecht zu werden. Dennoch konnten sie die Schule als Ort der Integration, der Inklusion, der Wissens- und Wertevermittlung nicht ersetzen, was sich in einer deutlichen Verschlechterung der Schulleistungen der Kinder nach dem Lockdown zeigte. 

Damit sind die Kinder nicht allein, wie der Blick auf die bundesdeutschen Verhältnisse zeigt: Die schulischen Leistungen hängen in Deutschland stark von der familiären Herkunft ab. Kinder aus Akademikerfamilien haben wesentlich bessere Bildungschancen als solche aus Familien mit niedrigeren Bildungsabschlüssen und weniger finanziellen Ressourcen. Hierzulande beginnen gerade einmal 21 Prozent der Kinder aus Nichtakademikerhaushalten ein Studium, unter Akademikerkindern sind es dagegen 74 Prozent. In den vorherigen Jahren konnte das einheitliche Lehrangebot in der Schule diese Unterschiede zumindest für die Dauer des Schultages etwas ausgleichen, während der Corona-Pandemie verschärfte sich die Bildungsungleichheit aber noch deutlich. Ohne ein entschlossenes Entgegensteuern durch eine soziale Bildungsoffensive, die genau diese Lebensrealitäten in den Blick nimmt, wird es kaum möglich sein, diesen Abstand wieder auszugleichen. Helfen könnte hier ein engerer Austausch mit den zuständigen Lehrkräften, den sich 75 Prozent der Eltern von Kindern mit Förderbedarf wünschen, sowie mehr digitale Fortbildungen für Lehrer:innen.

Wichtig dabei ist, mehrere Maßnahmen zu verbinden, wie vor kurzem der Soziologe Christoph Butterwegge betonte. Digitale Förderangebote allein reichen nicht. So gab es im Haushalt der Familie Schmidt nur einen einzigen nutzbaren PC und keinen funktionierenden Drucker. Zum Ausdrucken der benötigten Arbeitsblätter war man auf eine befreundete Familie angewiesen, die auch die Kosten für die Druckerpatronen übernahm. Die Familie ist damit kein Einzelfall: Nur 72 Prozent der Vierzehnjährigen aus Familien, die ALG II beziehen, haben Zugriff auf einen Computer – knapp 20 Prozentpunkte weniger als der Durchschnitt. Wenn das Zuhause keinen Ort zum Konzentrieren und keinen PC für die Online-Angebote bietet, dann kann die fehlende Lernatmosphäre auch nicht durch noch so gut ausgestaltete Materialien ausgeglichen werden. So bleibt Bildung am Ende des Tages bestimmt durch Besitzverhältnisse und ist damit auch eine Klassenfrage.

Andreas Hofmann, Anna Westner & Marius Gerards

*Hier wird ein Pseudonym verwendet.

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