Kein Ärger, keine Verbitterung. Stattdessen Optimismus, Pläne und viel Verständnis – Einblick in den Alltag von RentnerInnen in Zeiten von Corona.
Die vergangenen zwölf Monate bedeuteten für viele Menschen eine lange Reihe von Umbrüchen: von den SchülerInnen und Studierenden, die plötzlich an ihren eigenen Schreibtischen saßen, zu den Angestellten die entweder mit dem Homeoffice und/oder der Kurzarbeit kämpften. Doch wie sieht es aus, wenn sich das pandemiebedingte Auf und Ab mit den langerwarteten Umbrüchen in unserem Leben mischt? Viel ist in den letzten Wochen über die verlorene Jugend der AbiturientInnen gesagt worden; doch nicht nur der Abschluss der Schullaufbahn gestaltet sich dieser Tage überraschend schwierig, auch das Ende der jahrzehntelangen beruflichen Laufbahnen ist plötzlich anders – anders als geplant, als erwartet, als erhofft.

Wir haben mit drei RentnerInnen gesprochen, deren Eintritt in den Ruhestand mitten in die Pandemie fiel, und sie gefragt, was aus den Plänen, Ideen und Zielen geworden ist, welche unerwarteten Hindernisse sie überwinden mussten und wie sie nun ihre neue, freie Zeit verbringen. Drei Menschen, welche ihre sehr strukturierten Berufen nun hinter sich gelassen haben, berichten unmittelbar vor dem zweiten Lockdown im November 2020 aus ihrem Leben und ihrem Alltag. Kein Ärger, keine Verbitterung. Stattdessen Optimismus, Pläne und viel Verständnis.
Renteneintritt
Monika, pensionierte Lehrerin für Deutsch und Englisch, stellt gleich zu Beginn des Gesprächs lachend fest, dass sie inklusive ihrer eigenen Schulzeit 57 Jahre die Schule besucht hätte. Viele Pläne waren da vor dem Renteneintritt gewesen: Wochen- und Flohmärkte unter der Woche besuchen, Schwimmen gehen, Therme und Sauna benutzen, laufen gehen, mehr mit dem Rad zu fahren, der Garten, Handarbeiten und natürlich das Reisen und die Familie. Ihre Rentenzeit hatte sie sich anders vorgestellt und auch ihren Renteneintritt im Juli des vergangenen Jahres: An ihrem letzten Tag stand sie mit Kollegen und Vorgesetzten in weitem Kreis auf dem Hof ihrer ehemaligen Schule. Die Abschiedsfeier fiel situationsbedingt aus.
An einer Feuerschale im Garten sitzend, berichtet Doris* einige Wochen später von einer ganz ähnlichen Verabschiedung. An ihrem letzten Tag als Teamleiterin einer Filiale einer bekannten Einzelhandelskette, wurde sie von ihrer Chefin lediglich nach den Schichtplänen für die kommenden Wochen gefragt. Die KollegInnen gaben sich dennoch Mühe, den Abschied von der jahrelangen Tätigkeit möglichst schön zu gestalten. Das lange Arbeitsleben, die vielen verschiedenen Stationen und die wachsenden Beschwerlichkeiten in den vergangenen Jahren nährten die Vorfreude auf die Rente fast täglich. Da hallt die kühle Verabschiedung ein paar Tage nach, bevor der Ärger der Freude weicht, sich nun endlich auch den anderen Seiten des Lebens widmen zu können.
Ein wenig anders verlief es noch bei Ralf*, gelernter Baufacharbeiter und späterer Vermessungstechniker, der zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns mit seiner Frau bereits schon in Rente gewesen war. Übers Telefon berichtet er von der Abschlussfeier im Kreis der KollegInnen und des Chefs. An seinem ersten Tag in Rente stand er an der Ostsee am Strand und freute sich über den kommenden Urlaub. Umstände, die für Monika und Doris freilich nicht denkbar waren. Doch auch er teilt ihre Freude und Erleichterung über den Renteneintritt.
Doch jetzt, im Herbst 2020, da die Zahlen wieder steigen und man nicht weiß, ob ein weiterer Lockdown folgt, ob die Enkelkinder wieder zu Hause sitzen und nicht in der Schule lernen, wo das gemeinsame Leben im Dorf wieder zurückgedreht wird und Freizeitangebote überall gestrichen werden, müssen Pläne und Ideen neugestaltet werden. Es gilt, die Zuversicht nicht zu verlieren.
Einschränkungen und der Sommer
Die Sommermonate verbrachten alle drei in ihren Gärten. Draußen zu sein, ob nun bei der Pflege der Beete, mit dem Rasenmäher oder mit der Tasse Kaffee bereits zum Frühstück in der Sonne zu sitzen, ist ein Genuss, für den nun endlich die Zeit da war. Wie viele Menschen entdeckten alle drei im ersten Lockdown ein Stück Natur wieder neu. Dass der erste Lockdown in den Frühling fiel und in die Sommermonate führte, war dabei ein Segen. Optimistisch konnte da schon früh am Morgen im hellen Sonnenschein begonnen werden, all den kleinen und größeren Arbeiten nachzugehen. Ein wertvoller Ersatz für all das, was ausfallen musste.
Denn obwohl nun endlich Zeit für all die Dinge war, die man zwischen Berufsleben und Familienalltag früher auf wenige Wochenenden im Jahr aufschieben musste, hat sich die Breite des Angebotes doch erheblich eingeschränkt. Das Dorfleben bei Ralf kam fast zum Stillstand. Feiern, Feste, Besuche und Vereinsleben konnten nur über Umwege, wenn überhaupt, stattfinden. Ralf gesteht, dass er und seine Frau „alleine undisziplinierter“ seien. Sport zu Hause zu machen, falle sehr schwer. Mit regelmäßigen Tanz- und Sportkursen wäre das um vieles leichter, nicht nur mit dem Sport, sondern auch mit dem Halten von sozialen Kontakten. Seniorenangebote für Onlineveranstaltungen wie die der Tanzschule z.B. gibt es nur sehr wenige. Er wünscht sich mehr davon, vielleicht wäre es dann einfacher mit der Motivation und man könnte seine Kontakte pflegen, wenn man sehe, wer sich noch alles sich einschaltet und mitmacht.
Zudem fallen für alle drei ihre geplanten Reisen ins Wasser, mussten zurückgestellt und verschoben werden. „Jetzt haben wir das Geld und die Zeit und können nicht verreisen und nicht groß einkaufen. … Man wird ja nicht jünger.“, so Ralf.
Zeit zu haben und die Zeit nutzen zu können, waren plötzlich zwei verschiedene Dinge. Doch die kleinen Projekte in Haus und Garten, neue Hobbies wie Kochen oder Backen, gemeinsam laufen zu gehen, boten Zerstreuung. Ein Blick über den Zaun und einige Sätze mit viel Abstand gaben immerhin noch ein Gefühl der Gemeinsamkeit und die Gewissheit, mit dem allen nicht allein zu sein. Bewusste Spaziergänge mit und zu Bekannten, um einige Worte über den Gartenzaun auszutauschen, wurden regelmäßiger. Hobbies, die sie schon vor der Rente hatten und die sie seit sie in Rente sind, vertiefen können, halfen allen dreien sehr, die Zeit des ersten Lockdowns gut zu überstehen. Der dunklen Jahreszeit stehe er nun respektvoll gegenüber, meint Ralf. Das Unterwegssein und Rauskommen, welche dem Sommer Perspektive gaben, werden schwieriger. Wenn der Garten mit Eis bedeckt ist und man nicht mehr lange draußen spazieren kann, verengt sich der Radius des Möglichen noch einmal erheblich.
Soziale Kontakte
Immerhin lassen sich die familiären Kontakte mit den technischen Möglichkeiten der Moderne überbrücken. Ralf berichtet von den regelmäßigen Videoanrufen und wie schön es ist, zu der Stimme auch ein Bild zu haben, die Enkelkinder regelmäßig sehen zu können, auch wenn man hin und wieder einmal Hilfe mit der Technik benötige. Den Teil der Familie, der im eigenen Dorf wohnt, können man hin und wieder auch real sehen.
Anderen hingegen fällt es schwerer Kontakte zu halten. Zu groß die Angst vor der Ansteckung, die Unsicherheit und das Risiko, berichtet Monika. Gerade zu Beginn der Pandemie habe sie sich sehr zurückgezogen, blickte mit Neid und Sorge auf Bekannte, die eher sorglos ihrem Alltag nachgingen, sei es beim Weg zur Arbeit oder bi der Betreuung der Enkelkinder trotz Corona oder Besuche in Pflegeheimen, um sich weiterhin um ihre Angehörigen zu kümmern. „Warum haben die anderen keine Angst?“, fragt sie sich. Die eigene Angst zu überwinden, um mehr als ein Treffen mit Abstand draußen zuzulassen – das sei zu Beginn der Pandemie nicht möglich gewesen.
Monika empfindet sich und ihre eigenen Überlegungen sonderbar. Ihre Angst erschreckt sie selbst, isoliert sie. Hinter dieser Angst steckt auch objektiv eine chronische Krankheit der Atemwege seit mehr als 15 Jahren, die schon viele Einschränkungen brachte. Aus vielen Tiefs hat sie sich immer wieder hochgerappelt mit viel Selbstdisziplin, auch nach dem frühen Tod beider Elternteile und beider Geschwister. Dann noch der Tod einer Freundin ein Jahr nach Rentenbeginn „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“
Sie ist sich dessen bewusst. Aber die Bilder aus Bergamo und New York, der Militärkonvoi mit den Särgen und die Massengräber, sind immer im Hinterkopf, dabei kann sie nicht einmal genau sagen, weshalb sie sich die Videos immer und immer wieder angesehen hat.
Es kostet viel Kraft, seine Balance zu halten, seine Kontakte zu reduzieren, sich stark zu beschränken und dabei nicht zu vereinsamen. Immer wieder sich selbst zu ermutigen, trübe Gedanken nicht zu zulassen und optimistisch zu bleiben. Gerade für sie, die im Gegensatz zu den anderen beiden keinen Partner hat, mit dem sie zusammenlebt und einen Alltag teilt. Sie berichtet von ihrer Zerrissenheit. Sie sei immer schon gern allein gewesen. Nach einer turbulenten Kindheit, einem turbulenten Familienleben und einer anspruchsvollen Arbeit konnte sie schon immer gut mit sich allein sein. Viele von den Sachen, die sie jetzt mache, würde sie auch machen, wenn kein Corona wäre und sie ungehemmt unterwegs sein könnte. Aber sie gesteht, sie würde dies vielleicht nicht so intensiv betreiben, vielleicht würde es sich über einen längeren Zeitraum ziehen. Momentan reduziere es sich so sehr darauf, da ja viele andere Sachen nicht möglich sind. Die sozialen Kontakte dazwischen fehlen einfach, sodass jeder Tag mit einem Projekt sei es in der Küche oder am Nähtisch gefüllt wird. Sie vergleicht ihre Hobbies mit Schokolade essen: Sie freue sich, dass sie es machen könne und zwar so lange und wann sie will, aber jeden Tag und zu jeder Mahlzeit Schokolade zu essen, ist dann auch nicht mehr so schön. Es nimmt das Gefühl der Besonderheit ein wenig weg.
Im Frühjahr und Sommer empfing und stattete sie nur Besuche draußen im Garten ab, ging mit Freunden lange spazieren und versuchte der Familie und den Bekannten auf andere Art zu helfen. Sie nahm sich dem Homeschooling ihrer Enkelinnen an und half übers Telefon mit den Englischaufgaben, Deutsch später auch Mathe. Die Winterzeit mache es nicht einfacher, weniger sei möglich auf Grund der Temperaturen, aber sie mache das Beste daraus. Ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Familie habe sie nicht, das Verständnis sei da. Auch sie nutzt die Technik, schreibt Nachrichten mit ihren Enkelkindern und telefoniert viel mit ihrer Tochter. Bei Freunden sorgt sie sich schon mehr. Es gäbe Freunde, die es nicht ganz nachvollziehen könnten, wie sehr sie sich zurücknehme. Vielleicht gehen dadurch einige Freundschaften verloren, überlegt sie, anderseits telefoniere man viel miteinander und hört, dass es für die anderen auch eine enorme Herausforderung ist und das verbindet wieder.
Dass Freunde und Familienmitglieder auch allein viel unterwegs sind, ob zu Fuß oder mit dem Rad, habe sie dazu angespornt, wieder selbst mehr unterwegs zu sein. Das Teilen seiner Touren ob mit Fotos oder Aufzeichnungen über die Strecke, täte gut und fördere den Austausch. Und dennoch habe sie festgestellt: „Alleine ist doof.“ Und so trifft sie sich regelmäßig, mit Abstand, mit ihrer Freundin zum Laufen und genießt die Zeit, nicht allein zu sein und erzählen und zuhören zu können und an der frischen Luft zu sein, ohne ständig einen Mundschutz tragen zu müssen.
Der kommende Winter
Das Einkaufen ist eines der alltäglichen Phänomene, die nun neu organisiert werden müssen. Monika erklärt, dass sie alle ihre Besorgungen an einem strikt durchgeplanten Vormittag in der Woche durchführt. Die Floh- und Wochenmärkte, auf die sie sich vor ihrem Renteneintritt gefreut hatte, sind erst einmal in weite Ferne gerückt. Auch bei Ralf und seiner Frau bestimmt nun hier die Effizienz den Wocheneinkauf: Die gingen nicht mehr gemeinsam und hielten sich nur mit dem auf, was auf dem Zettel stünde. Das gilt auch für die Weihnachtseinkäufe und Geschenke, die deutlich reduziert wurden. Verständnis dafür sei in der Familie vorhanden. „Lieber gesund bleiben als rumfahren und Geschenke einsammeln.“
Doch das Leben muss weitergehen. Doris und ihr Mann würden gern in dieser Jahreszeit dem Garten einen Besuch abstatten wenn auch zu Fuß – ein Ziel braucht man. Telefonate mit Freunden und der Familie täten weiterhin gut. Durchhalten. Gemeinsam durchhalten. Sich selbst motivieren. Andere motivieren. Sich der Situation anpassen. Das Beste daraus machen. Hoffen, dass es wieder besser wird.
Ob die Pläne für Weihnachten überhaupt umsetzbar sein werden, kann in diesen Wochen im November ohnehin noch niemand sagen – weder Monika, die mit ihrer Familie im Garten an der Feuerschale feiern will, noch Ralf, der mit seiner Frau einen langen Silvesterspaziergang plant. Allen dreien ist klar, dass das bisherige Familienfest nicht so zu feiern sein wird, wie es in den vergangenen Jahren stattfand. Vermutlich wird man im nächsten Frühjahr und Sommer einige Feiern nachzuholen haben. Doris erklärt, wie sie mit ihrem Mann zu ihrem Sohn fahren wird, nur um vor der Tür Geschenke zu lassen und sich hoffentlich draußen kurz persönlich sprechen zu können. Doch ihr Optimismus bleibt: „Die Situation ist nun einmal so und wir müssen das Beste daraus machen.“ Am Ende überwiegt die Dankbarkeit, unter diesen Bedingungen nicht mehr arbeiten zu müssen, sondern Zeit zu haben, sich um Freunde, Familie und sich selbst zu kümmern – nicht nur bei ihr, sondern bei allen dreien.
Annett Wadewitz & Claudia Buder
*Namen teilweise von der Redaktion geändert