„Man darf nicht vergessen, dass man nicht nur für sich selbst lebt“ – Ein Rückblick auf über zwei Jahrzehnte in der Altenpflege

Foto von Daphne Kabaali

Was haben ein Obst- und Gemüsestand, der Wunsch Menschen zu helfen, die Mutter der schwedischen Königin Silvia, Wertschätzung, Alltagsrassismus und Dankbarkeit miteinander zu tun? Auf den ersten Blick sieht man zwischen diesen Worten wohl keine eindeutige Verbindung und doch sind sie alle Teil von einer Geschichte, die in einem kleinen Dorf in der Türkei beginnt und in einer Tagespflegeeinrichtung für Senioren in Berlin endet. 

Mit 20 Jahren tritt er alleine die Reise aus seinem Heimatland, der Türkei, nach Deutschland an und beginnt hier sein Studium. Nach einiger Zeit wird klar, dass ein Vollzeitstudium, das Erlernen einer neuen Sprache und die Finanzierung des Lebensunterhalts auf Dauer ohne finanzielle Hilfe kaum zu stemmen sind. Von einem Bekannten übernimmt er einen Obst- und Gemüsestand, der, wie es das Schicksal will, direkt vor einem Altenheim steht. Viele der BewohnerInnen kaufen täglich bei ihm ein und schnell entwickelt er eine Sympathie für die alten Menschen. Aus der anfänglichen Sympathie entsteht ein konkreter Wunsch: „eine sinnvolle Arbeit in der Pflege anzunehmen und dadurch Menschen zu helfen.“

In Deutschland sind aktuell insgesamt rund 4,1 Millionen Menschen pflegebedürftig, von denen ein Großteil durch Familienmitglieder, durch einen der 14.700 Pflegedienste oder in ambulanten Tageseinrichtungen betreut werden. Dazu gibt es rund 15.500 Pflegeheime, in denen ca. 1. Mio Menschen leben (Destatis 2020).

Herr M. sucht sich zunächst eine Beschäftigung als Pflegehelfer und entscheidet sich schließlich für einen Studienabbruch und den Beginn der Ausbildung zum Altenpfleger. Die Inhalte machen ihm Spaß, gleichzeitig wird in der Ausbildung vermittelt, wie schwierig diese Arbeit sein kann. Der Ausbildungsleiter betont neben der hohen körperlichen Belastung wiederholt, dass manche zu pflegenden Menschen „schnell handgreiflich werden und dass man auch im Gefängnis landen könnte, wenn man sich wehrt.“ Trotzdem ist Herr M. fest entschlossen, die Ausbildung abzuschließen und steht weiterhin hinter seinem Berufswunsch.

Mit der Konzertierten Aktion Pflege (KAP) versucht die Bundesregierung seit Juli 2018 den Arbeitsalltag von Pflegekräften spürbar zu verbessern und so die Pflegeausbildung zu stärken. „Die Zahl der Auszubildenen in der Altenpflege ist in Deutschland zum Schuljahr 2019/2020 zum ersten Mal seit fünf Jahren wieder stark gestiegen, nämlich um 5,9 Prozent im Vergleich zum vorherigen Schuljahr“, so das Bundesgesundheitsministerium.

An seine Ausbildung erinnert er sich als eine Zeit mit vielen einprägsamen Erlebnissen. Sein erstes Praktikum führt ihn in eine Psychiatrie. Bei einem Spaziergang mit einer Patientin beginnt diese plötzlich hysterisch zu lachen. „Sie hat mit dann erzählt, sie lacht darüber, dass ihr behandelnder Arzt uns zusammen gesehen und zu ihr gesagt hätte: Du Schla*mpe, bist du etwa wieder mit einem Türken zusammen?“ – seine erste Konfrontation mit einer Patientin, die unter Wahnvorstellungen leidet. Eine ganz neue Erfahrung für den mitte Zwanzigjährigen.

Die nächste Station ist ein Praktikum in einer kleinen, luxuriösen Pflegeeinrichtung, in der er auch der Mutter von Königin Silvia aus Schweden begegnet, die dort zwei Wochen verbringt und ihn am Ende persönlich für sein Engagement lobt. Dort beginnen aber auch die ersten Zwischenfälle, mit denen Herr M. danach über Jahre immer wieder konfrontiert wird. „Tatsächlich erfährt man auch manchmal Ablehnung oder Negatives von Leuten, denen man eigentlich hilft. Oder einem wird das Gefühl gegeben, dass man […] als Fachkraft da gar nicht wertgeschätzt wird, wenn die Gäste unserer Einrichtung sagen: Ich möchte lieber von xy betreut werden.“ Oft hat er das Gefühl, diese Ablehnung erfährt er aufgrund seiner Herkunft. Direkt ausgesprochen wird das natürlich nie, weder von den Gästen, noch von KollegInnen oder Vorgesetzten. Auch in der Tagespflegeeinrichtung, in der er seit Abschluss seiner Ausbildung bis heute tätig ist, bleibt er von diesem Gefühl nicht verschont. Bei seiner neuen Pflegedienstleitung (PDL), der verantwortlichen Leiterin seiner Einrichtung, fühlt er sich nicht mehr so wohl. „Die ganzen Jahre davor hatten wir eine andere PDL. Damals hat die Arbeit mehr Spaß gemacht. Die neue ist jetzt seit drei Jahren da. Sie hat die ganze Struktur verändert. Meinem Gefühl nach bevorzugt sie die deutschen Kollegen und versucht die ausländischen zu ignorieren, isolieren, sowas. Sie macht es offensichtlich. Ihr Umgangston mit gegenüber ist anders als anderen deutschen Kollegen gegenüber. Ich habe sie darauf auch angesprochen und sie meinte, ich bin zu sensibel.“

Unbeabsichtigt rutschen wir in das altbekannte Thema Missstände in der Pflege. Wir reden lange über MAEs, wie Herr M. sie nennt. MAE steht eigentlich für Mehraufwandsentschädigung und stellt die Entlohnung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten (Sozialhilfeempfängern) dar, die im Zuge einer Maßnahme zur Aktivierung und Eingliederung vom Jobcenter in Organisationen geschickt werden, um dort Aushilfstätigkeiten zu erledigen. Herr D. steht dieser Maßnahme kritisch gegenüber: „Du kannst jemandem, der mit der Pflege nie zu tun gehabt hat, nicht innerhalb von einem Monat alles beibringen. Sie haben das Interesse daran auch überhaupt nicht. Man merkt immer direkt, dass sie nicht wollen, weil man sie gezwungen hat hierher zu kommen. Sie sind da und sitzen ihre Zeit ab. Viele von den Hilfskräften erzählen, dass man ihnen gedroht hat, dass ihnen die Gelder gestrichen werden, wenn sie nicht dahin gehen, wo man sie hinschickt oder wenn sie mehrmals die Stelle wechseln. Sie sind ständig unter Strom.“

Und das in einem Bereich, in dem es darum geht, den zu pflegenden Personen mit Einfühlsamkeit und Ruhe zu begegnen, denke ich.

„Für den Arbeitgeber ist die Zahl der anwesenden Betreuer entscheidend und sie rechnen diese MAEs als vollständige Kraft mit und das kann natürlich nicht sein. Wir haben viele Gäste mit verschiedenen Krankheitsbildern und das kann nur eine Fachkraft richtig beurteilen. Sie dürfen gar nicht wie eine vollständige Kraft eingesetzt werden, aber werden sie trotzdem.“

Die Folge: ein maximal hohes Stresslevel und viele Krankschreibungen, auch bei den Fachkräften. Darunter leiden dann wiederum die alten Menschen. Ich frage Herrn M. nach Lösungsansätzen für dieses Problem.

„Also ich würde sagen die MDKs (Medizinischer Dienst der Krankenkasse) sollen einfach mehr kontrollieren. Auch unangekündigt. Sie kommen einmal im Jahr, manchmal schauen sie sich nicht mal unsere Gäste an, sondern kommen nur ins Büro und lesen das, was wir da dokumentiert haben. Das finde ich sehr traurig, weil man Dokumentationen machen kann, wie man möchte. Es sollte ein Kontrollmechanismus entstehen. Auch auf Angestellte bezogen, also man sollte kontrollieren und gucken, wie lange unterbesetzt gearbeitet wurde. Dann sollte man, wenn man feststellt, dass da viele krank werden, die Frage stellen: Warum ist das so? Dann muss die Struktur der Einrichtung nicht gut organisiert sein. Die Gründe sind wahrscheinlich, dass man von den Angestellten zu viel verlangt, von allen Seiten. Das sollte man strukturieren und nicht einfach sagen: Ja das ist Pflege, da wird man halt krank.“

Dieser Ansatz klingt für mich sehr logisch. Um Anreize für den Beruf zu schaffen, wie der Versuch der Bundesregierung durch die Konzertierte Aktion Pflege, müssen erst die internen Strukturen funktionieren, damit die Angestellten nicht reihenweise ausfallen. Stellenangebote für examinierte Altenpflegefachkräfte sind im Bundesdurchschnitt 212 Tage unbesetzt. Es mangelt also stark an Fachkräften. Auch das Thema unzureichende Bezahlung klappern wir ab. Er meint, es würde Dank der tariflichen Regelungen zum leben reichen, fürs Rentenalter abgesichert sei er allerdings auf keinen Fall.

Herr M. hält kurz inne und auch wenn man ihm die Frustration anmerkt, setzt er zu einem neuen Gedanken an. Er erzählt mir von einer alten Frau, die im Sterben lag und ihn bat, sie während ihrer letzten Stunden zu begleiten. Immer wieder drückte er ihre Hand und ihre Tochter bedankte sich am Ende aufrichtig und erinnerte ihn daran, wie besonders es sei, dass sich ihre Mutter nicht sie selbst oder jemanden aus ihrer Familie, sondern Herrn M. für die letzten Momente an ihrer Seite gewünscht hatte. „Dann sage ich mir immer ich will das alles aushalten, weil ich in meinem Beruf dafür so oft sehe, wie gut man einem Menschen helfen kann und wie glücklich ein Mensch ist, wenn ihm geholfen wird. Ich merke, viele Menschen sind einsam in diesem Land und wenn man sich mit ihnen unterhält und zuhört was sie erzählen, sieht man an ihren Gesichtszügen wie fröhlich sie sind, wie entspannt sie sind. Sie fühlen sich wie Zuhause. Ich merke, dass die kleinsten Sachen, die ich für die Menschen da tue, für sie etwas Großes bedeuten. Ich habe festgestellt, dass sie oft sehr bescheiden sind.“

Diese Stelle des Interviews habe ich hinterher immer wieder gelesen und sie erfüllt mich jedes Mal aufs Neue mit Hoffnung. Dieses Gefühl ist nicht nur zentral, um zu verstehen, warum es Menschen gibt, die den Stress und die Arbeitsbedingungen im Pflegebereich jeden Tag auf sich nehmen und sich weiterhin durchbeißen, es ist auch universell auf unsere täglichen zwischenmenschlichen Begegnungen anwendbar und ist gerade jetzt, wo diese Begegnungen so beschränkt sind, besonders wichtig.

„Man sieht, wenn man Anderen hilft und man sieht, wenn diese Hilfe auch ankommt und man merkt, wieviel Kraft man anderen Menschen geben kann. Das ist wirklich etwas, was man im Alltag öfter mal vergisst; dass man nicht nur für sich selbst lebt.“ 

 

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