„Männerwelten“ wurde innerhalb kürzester Zeit auf vielen Portalen und in vielen Medien thematisiert – primär konnte man Verständnis und Zustimmung wahrnehmen, offen zur Schau getragene Entrüstung und (selbst-)gerechter Zorn („Ich würde so etwas ja nie tun! Wer macht sowas? Verstehe ich ja gar nicht!“). Und doch gibt es ja offenbar Menschen, die genau so etwas tun: unerwünschte dick pics, nudes, unangenehme Kommentare und grenzüberschreitendes Verhalten sind keine wirkliche Seltenheit mehr. Es gibt tatsächlich kaum eine Frau, die noch nie mit mulmigem Gefühl und Schlüssel in der Hand nach Hause gelaufen ist, schief von der Seite angequatscht wurde oder verstörende Bilder geschickt bekommen hat.

Ich möchte hier die Männer nicht davon ausnehmen, dass auch ihnen unangemessene Inhalte geschickt oder sie unangenehmen Situationen ausgesetzt werden; stattdessen scheint das allgemeine Bewusstsein für die privaten Grenzen des Gegenübers aufzuweichen.
Die Scheinheiligkeit, mit der laut über übergriffiges Verhalten geschimpft wurde, zeigte bald wieder ihr wahres Gesicht, nachdem der erste Ärger abgeklungen war. Auf einer recht populären Seite (Made My Day auf Instagram), die nach dem Video auf ProSieben ebenfalls schnell mit einem Beitrag gegen sexuelle Belästigung reagierte, ließen sich bald wieder fragwürdige Witze finden, wie dieser hier: „Muss ich eigentlich eine Maske tragen, wenn ich mit meiner Ex rede? Ist ja immerhin ein öffentliches Verkehrsmittel.“ (mmd, 22.05.2020). Dieser Post bekam innerhalb von vier Tagen mehr als 127.000 positive Rückmeldungen.

Vielleicht sollten wir uns generell mehr Gedanken darübermachen, ob es lustig ist, einen Menschen abzuwerten, zu objektivieren, zu sexualisieren und zu reduzieren. Durch unsere Eltern und Großeltern lernen wir den Satz: „Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem andern zu“. Möglicherweise wird es Zeit, dass wir uns an unsere Kindertage erinnern und wieder damit anfangen, unserem Gegenüber mit Respekt zu begegnen und uns bewusst zu machen, dass alle Nachrichten, die wir online stellen, am Ende von Menschen aus Fleisch und Blut gelesen werden. Oder wollen wir uns weiterhin als Sprungbrett anderer zur emotionalen „Aufwertung“ nutzen lassen, die uns beleidigen, Drohungen aussprechen und in unsere Intimsphäre eindringen?
Ina-Berit Leuchs