Politische Partizipation und digitale Öffentlichkeit. Welchen Platz hat digitale Öffentlichkeit in der Demokratie?

Politische Partizipation im digitalen Raum hat zur Zeit der Corona-Pandemie weiter an Bedeutung gewonnen. Öffentliche Begegnungen wurden so stark eingeschränkt, dass das Internet für viele Menschen das wichtigste Tor zur Welt oder als einfachste Möglichkeit zum Kontakthalten avancierte. Vermutlich noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik musste die Bevölkerung ihren politischen Verantwortungsträgern in Parlamenten und Regierungen in solchem Maße vertrauen, die für sie richtigen Entscheidungen zu treffen. Beteiligung und Meinungsäußerung waren faktisch nur über digitale Kanäle möglich und dies wurde auch zahlreich genutzt, wie etliche Petitionen zeigen, unter denen die Forderung zur Absicherung Solo-Selbstständiger im Rettungsschirm sicherlich einer der Erfolgreichsten ist (Abb. 1). Auch virtuelle Townhall-Meetings wurden genutzt, um im direkten Gespräch mit politischen Verantwortungsträgern Forderungen zu diskutieren, so beispielsweise die Gewerkschaft ver.di am Tag der Pflegenden (Abb. 2). Ebenso nutzte die Fridays for Future-Bewegung digitale Formate für ihren „Netzstreik“ (Abb. 3.).

Hat er sich also bewährt, der digitale öffentliche Raum? Wird er nun noch viel stärker zum demokratischen Selbstverständnis gehören? Davor möchte ich warnen.

Die genannten Beispiele zeigen, dass digitale Kommunikationsmedien politische Beteiligung bereichern können. Auch die massive Verbreitung der Black Lives Matter-Bewegung ist ein Beispiel dafür, dass lokale und nationale Grenzen aufgeweicht und politische Debatten sowie Bewegungen erst durch soziale Medien möglich werden; sei es, weil sie Infrastrukturen für sich formierende Bewegungen bereitstellen oder sei es, weil sie marginalisierte Themen erst in das Licht der Öffentlichkeit ziehen.

Auch wenn moderne Kommunikationstechniken also einige Vorzüge haben mögen, wäre es fatal, wenn unser gemeinsamer Weltbezug vordergründig durch den digitalen Raum bestimmt würde. Er ist nämlich nur begrenzt öffentlich und verstärkt bereits bestehende Ungleichheiten. Somit könnte das Digitale viele Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie wieder zu Nichte machen. Dieser Zusammenhang wird vor dem Politikverständnis von Hannah Arendt deutlicher. Nach ihr lebt demokratische Politik davon, dass es einen Raum gibt, in dem wir über die Gestaltung der uns gemeinsamen Welt streiten und uns in unserem Handeln und Sprechen als Individuen darstellen können (Arendt 2018b: 62ff.). Dieser Raum ist für Arendt die Öffentlichkeit. Sie ist zum einen das was für jeden hör- und sichtbar ist und zum anderen das Gegenteil des Privaten (Arendt 2018b: 62ff.).

Um demokratische Politik gewährleisten zu können, bedarf der öffentliche Raum also erstens einer gemeinschaftlichen Infrastruktur, die nicht privat ist, sondern prinzipiell allen gehört. Es braucht Versammlungsorte, den Austausch in Vereinen der Zivilgesellschaft, Parlamente und Gemeinderäte, die als Kulminationspunkte der politischen Debatte dienen. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat den Anspruch unparteiisch und frei von Privatinteressen zu informieren. Ebenso gehört die rechtliche Absicherung unserer Privatsphäre und das Recht auf freie Meinungsäußerung zu den Grundlagen eines öffentlichen Raumes.

Diese öffentliche Infrastruktur ist im Internet nicht gegeben (van Dijck et al. 2018: 16). Hier bestimmen weltweit nur wenige Konzerne über die technische und inhaltliche Gestaltung der Abläufe der großen Plattformen wie YouTube, Facebook oder Google. Nutzer*innen sind in erster Linie Konsument*innen. Facebook und Twitter sind gute Möglichkeiten zum politischen Austausch, haben aber vordergründig die Funktion effizient Werbeeinnahmen einzuspielen (Staab 2019: 182). Diese digitalen Plattformen werden von nicht-menschlichen Akteuren (Algorithmen) verwaltet und gesteuert, die das Handeln der Menschen direkt beeinflussen (Beer 2016). Bei den meisten Algorithmen ist jedoch unklar, wie sie genau programmiert werden. Der uns im Internet präsentierte und zur Verfügung stehende Kommunikationsraum erscheint als natürlich, ist aber in Wirklichkeit das Resultat eines intransparenten Konstruktionsprozesses, der unser Handeln maßgeblich beeinflusst (Willson 2016). Dies wird bspw. in den Ausmaßen deutlich, wie gezielte Propagandastrategien im Netz zunehmen (das ev. prominenteste Beispiel hierfür war die russische Beeinflussung des US-Wahlkampfs 2016, (Zeit Online 2018) und Verschwörungstheorien teilweise weite Verbreitung finden.

Arendt sensibilisiert außerdem noch für einen weiteren Punkt, der die Begrenztheit des digitalen Raumes verdeutlicht. Die Bedingung für öffentliches Streiten ist an die private Absicherung gekoppelt. Um sich ohne Not in das öffentliche Leben einzumischen, muss sich das Individuum erst frei von Lebensnotwendigkeiten definieren können (Arendt 2018b: 79). Denn „die Freiheit, frei zu sein […] [bedeutet] nicht nur von Furcht, sondern auch von Not frei zu sein.“ (Arendt 2018a: 24). Damit also von wirklicher Demokratie gesprochen werden kann, bedarf es zweitens einer komfortablen Absicherung der Gesellschaftsmitglieder, die sich unter vergleichbaren ökonomischen Voraussetzungen in die öffentliche Debatte einbringen. Das Digitale verstärkt jedoch Tendenzen der Ungleichheit und behindert somit politisches Handeln. Denn der Zugang zu diesen öffentlichen Räumen ist an den Besitz guten Internets, funktionierender Geräte und technischen Wissens gekoppelt. Die „digitale Spaltung“ zeigt sich in ungleichen Voraussetzungen für Zugang und Nutzung sowie in den daraus entstehenden Wirkungen (Zillien & Haufs-Brusberg 2014: 77ff.). Aus diesen Gründen finden die Bedürfnisse der Menschen aus den unteren Klassen in der digitalen Öffentlichkeit noch weniger Platz als es in einer repräsentativen Demokratie ohnehin schon der Fall ist (Elsässer et al. 2017).

Vor diesem Hintergrund möchte ich davor warnen, dem digitalen Raum eine dominierende Stellung im politischen Selbstverständnis einzuräumen. Öffentlichkeit entsteht durch die egalitäre Beteiligung Vieler. In ihr verwirklicht sich dadurch erst Demokratie. Die Beispiele aus der Anfangszeit der Corona-Pandemie sind gute Ideen für vielfältige Formate politischer Partizipation. Vielen Menschen ist in dieser ungewöhnlichen Situation bewusstgeworden, dass es eine uns gemeinsame Welt gibt, die gestaltet werden muss. Diese findet nicht in der privaten Wohnung, auf dem Laptop oder dem Smartphone statt.

Lucas Krentel

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