
„Wer sind wir im Netz?“ – Eine Frage, welche die klassische philosophische Frage des „Wer bin ich?“ auf eine ganz neue herausfordernde Ebene projiziert. Wer sich auf Internetplattformen bewegt, weiß sehr gut, dass die Identifizierbarkeit von Menschen im Netz anders abläuft als im realen Leben. In der digitalen Welt stoßen wir oftmals auf User statt auf Individuen, digitale Identitäten können individuell angepasst und multipliziert werden, manchmal bleiben auch alle Nutzer gänzlich anonym. Zugegeben, in manchen Fällen ist eine Übertragung der realen Identität in die digitale Welt nötig; beim Online Shopping oder beim Buchen eines Flugtickets müssen zum Beispiel die Bankdaten oder auch die Reisepassnummer eingegeben werden. Aber was ist, wenn wir uns in der digitalen Welt hinter Benutzernamen verstecken können?
Die App Jodel ist ein Beispiel für einen anonymisierten Raum im Netz. Benutzer der App werden nicht durch selbst gewählte Usernamen anonymisiert, sondern sie posten und kommentieren andere Posts lediglich mit einem Hinweis zur räumlichen Nähe („hier“, „sehr nah“, „nah“ oder „fern“) und einer Nummer, die ihnen in der Reihenfolge der Kommentare zugewiesen wird. Der Verfasser des Jodels bleibt dabei immer OJ, was für Originaljodler steht. Die Beliebtheit der App liegt unter anderem in der Anonymität begründet. Die Privatsphäre ist geschützt, was ein hohes Gut ist. Man kann aber auch leichter Nonsens verbreiten. Die App lebt also davon, dass kein Mensch mehr ein Blatt vor den Mund nehmen muss. Dieses Phänomen zeigt sich natürlich nicht nur auf Jodel, auch in sozialen Netzwerken wie Instagram und YouTube oder in der Gaming Community gehört (teil)anonyme Kommunikation zum Alltag.



Dass sich Menschen hinter digitalen Identitäten verstecken können, hat in vielen sozialen Medien auch zu einem Anstieg von Hasskommentaren geführt. Vieles, was anonym in dieser Weise in der digitalen Welt von sich geben wird, würden sich Hasskommentatoren im realen Leben nicht trauen. Gravierende Bedeutung bekommt die Anonymität im Netz, wenn Online-Straftaten verübt werden und Täter nicht eindeutig identifiziert werden können, da sie ihre Identität verschleiern. Ein aktuelles Beispiel wäre der Cyberangriff auf die Bürgerdienste Potsdam zu Beginn des Jahres 2020. Demgegenüber stehen aber auch klare Vorteile digitaler Anonymität. So kann sich im anonymisierten Raum die Hemmschwelle lösen, über gewisse sensible Themen zu reden, deren Austausch in anderen Kontexten für die Nutzer ein massives Risiko darstellt. Erwähnenswert sind hier Plattformen zur Suchthilfe, Gewalterfahrungen oder auch zu ganz alltäglichen Problemen, die den Menschen durch die gewährleistete Anonymität helfen, ihre Probleme besser zu bewältigen. Dass es sich beim Hacking um ein zweischneidiges Schwert handelt, zeigt auch das Beispiel der Hackercommunity Anonymus, die politische Debatten und Bewegungen aktiv durch die Veröffentlichung von sonst unzugänglichen, als geheim eingestuften Daten unterstützt. Kürzlich war dies im Zusammenhang mit der Black Lives Matter Bewegung der Fall. Während die Beschaffung solcher Daten und Dokumente rechtlich eine Straftat darstellt, kommt dem veröffentlichten Inhalt nicht selten eine demokratiefördernde Bedeutung zu, ohne dass die Handelnden dabei selbst in Erscheinung treten.
Digitale Identitäten spielen in unterschiedlichen Kontexten im Netz eine Rolle. Die damit verbundene Anonymität verändert unser Handeln, im Netz und im analogen Leben. Die Risiken dieser Entwicklung liegen auf der Hand, aber dieser Beitrag hat auch Chancen deutlich gemacht, die es gibt.
Angelika Wetzel