Wenn Jugendliche schnell erwachsen werden (sollen)

Wenn von Armut die Rede ist, denkt man oft nicht zuerst an ein Industrieland wie Deutschland. Jedoch ist Armut nicht nur ein Problem in Entwicklungsländern. In Deutschland sind aktuell 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Armut betroffen. Genaue Zahlen, wie viele von den 2,8 Millionen Betroffenen in stationären Jugendhilfeeinrichtungen leben, sind nicht bekannt. Allerdings haben diese in Deutschland in den letzten Jahren deutlich zugenommen. In diesem Blogbeitrag soll es nicht um das Leben in der Jugendhilfe gehen. Wir thematisieren vielmehr Leaving Care (d.h. den Übergang in die Selbstständigkeit), welcher im gesellschaftlichen Diskurs wenig berücksichtigt wird, wie die Soziologin und Careleaverin Alexandra Doll schreibt.

Der Begriff „Careleaver*innen“ bezeichnet Menschen, die zumindest einen Teil ihres Lebens in stationären Einrichtungen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind. Meist mit Beginn des 18. Lebensjahres verlassen diese die stationäre Jugendhilfe und schlagen den Weg der Selbstständigkeit ein. Aus Sicht des Jugendamtes sind sie „verselbstständigt“, sobald sie in einer eigenen Wohnung leben. Und das, obwohl laut dem Kinder- und Jugendhilfegesetz im achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) Hilfe noch zwischen 18 und 21 Jahren, in Ausnahmefällen sogar bis 27 Jahren, in Anspruch genommen werden kann. Im Vergleich dazu leben viele Jugendliche, die nicht in stationären Einrichtungen oder Pflegefamilien aufgewachsen sind, bis Mitte 20 im Elternhaus. Dabei sehen sich Careleaver*innen auf Grund ihres schwierigen Lebensweges mit großen Herausforderungen konfrontiert. Das relativ frühe Aussetzen der Jugendhilfe liegt zum Teil daran, dass vor allem Heimerziehung, betreutes Wohnen o.ä. den Staat viel Geld kostet. Daher versuchen die zuständigen Jugendämter, die Jugendlichen möglichst schnell zum selbstständigen Wohnen zu bewegen.

Die meisten Careleaver*innen waren ursprünglich aus familiären Problemen auf Hilfe angewiesen. Häufig wird von einer “Flucht“ aus dem Elternhaus gesprochen, die in der Situation endet, dass Betroffene zunächst einmal um die Grundbedürfnisse des Lebens ringen müssen. Nicht nur der emotionale Beistand der Eltern fällt weg, sondern genauso der finanzielle. Für Careleaver*innen hat bspw. die erste eigene Wohnung – für junge Menschen ein wichtiger Schritt Richtung Erwachsenwerden – nichts mit einem „Loslösungsprozess vom Elternhaus“ zu tun. Während nicht wenigen jungen Menschen, die bei ihren Eltern aufgewachsen sind, selbst nach dem Auszug bei Geldlücken weiterhin ausgeholfen wird, sind Careleaver*innen meist völlig auf sich allein gestellt. Sollten sie beim Übergang in die Selbstständigkeit scheitern, gibt es keine Möglichkeit, in die Familie oder vorherige Wohnsituationen zurückzukehren. Wenn Careleaver*innen dann beim Staat finanzielle Hilfe suchen, indem sie zum Beispiel einen BAFöG-Antrag stellen, ist es nicht immer ein leichtes Schaffen an die Unterlagen der Elternteile zu gelangen. Zudem werden sie neben der Wohnungssuche noch mit weiteren Vertragsabschlüssen, dem Start in eine Ausbildung oder gar ins Studium konfrontiert. All die Dinge, bei denen einem meist die Eltern zur Seite stehen, bedeuten für Careleaver*innen erheblich mehr Aufwand als für den durchschnittlichen Jugendlichen. Die Folge: Kinder und Jugendliche, die von der Jugendhilfe abhängig sind, kämpfen mit finanziellen Problemen sowie psychischen und emotionalen Belastungen, die nicht nur das Privatleben, sondern auch ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigen, was mitunter sogar zu Obdachlosigkeit führt

Brückensteine Careleave ist eine Initiative, die Careleaver*innen mitunter auf dem Weg ins Erwachsenenleben unterstütz. Foto: Brückensteine Careleaver

Roxan Krümmel, eine Careleaverin, erzählt in einem Interview mit dem Projekt „Careleaver-Kompetenznetz“, wie das Jugendamt bei ihrem Weg in die Selbstständigkeit nur am Rande eine Rolle gespielt hat. Abgesehen von einer Vermittlung von Ansprechpartner*innen und Expert*innen, gab es keine besondere Unterstützung. Eher haben ihre Pflegeeltern sie direkt unterstützt. Mittlerweile gibt es allerdings verschiedene Netzwerke und Initiativen wie der Careleaver e.V., der jungen Menschen beim Übergang in die Selbstständigkeit zur Seite steht. Dort bekommen sie nicht nur Informationen gestellt, sondern der Verein ist auch politisch aktiv, bietet eine Möglichkeit des Austauschs untereinander, verknüpft sich auf Instagram mit verschiedenen Plattformen und bietet die Teilnahme an unterschiedlichen Veranstaltungen und Workshops an. Die Initiative „Brückensteine Careleaver“ versucht wiederum bei Behördengängen, bei der Suche nach einer eigenen Wohnung oder beim Nachholen von Bildungsabschlüssen zu helfen.

Mit der Volljährigkeit werden Careleaver*innen in ein Leben mit immensen Herausforderungen entlassen – oft ein harter Übergang. Die Off Road Kids Stiftung sieht vor allem finanzielle Gründe für die scheiternde Verselbstständigung von Careleaver*innen und  fordert daher ein bundesweit einheitliches Finanzierungskonzept, welches die Unabhängigkeit von den einzelnen Kommunalkassen erhöht. Es ist verständlich, dass kommunale Kassen nicht überstrapaziert werden dürfen. Daher ist niemandem geholfen, wenn die Zuständigkeit von den Jugendämtern an die sowieso schon überforderten Jobcenter abgegeben wird. Gleichzeitig muss bedacht werden, dass der Staat keine richtige Familie ersetzen kann. Deswegen bedarf es auch nach Erreichen der Volljährigkeit feste Ansprechpartner*innen, an die sich Careleaver*innen jederzeit wenden können, wenn Fragen in Bezug auf Verträge, Anmeldungsfristen oder finanziellen Sorgen aufkommen. Denn mit genügend Aufmerksamkeit und zunehmender Hilfe von Seiten der Netzwerke, Initiativen und möglichen Ansprechpartner*innen könnte die schwierige Situation von Careleaver*innen deutlich verbessert werden.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

%d Bloggern gefällt das:
search previous next tag category expand menu location phone mail time cart zoom edit close