Die Tatsache, dass das Schulsystem in Berlin und Brandenburg im Bundesvergleich eins der Schlusslichter bildet, ist erschreckend, aber nicht neu. Bildungssenatorin Sandra Scheeres hatte 2019 deshalb einen Experten-Ausschuss die Qualität an Berliner Schulen prüfen lassen und ein Gesetz veranlasst, das Kindern und Jugendlichen zu mehr Mitspracherecht verhelfen sollte. In beiden Beschlüssen allerdings zeichnet sich bereits eine grundlegende Schwachstelle ab, die nun spätestens in der Corona-Krise wie durch ein Brennglas sichtbar wird: Die fehlende Mitwirkung der SchülerInnen, wenn es um bildungspolitische Fragen geht. „Beratungen auf Bundesebene […] dürfen nicht ohne Beteiligung der direkt Betroffenen stattfinden“, teilte die Bundesschülerkonferenz gemeinsam mit dem Deutschen Kinderhilfswerk nun mit. Mitsprache sei dabei auch auf Landesebene und direkt an den Schulen unerlässlich.

Was in Bezug auf das Berliner Bildungssystem also fehlt, ist zum Beispiel in der Medizin banale Grundlage. Wenn ein Patient krank ist, fragt ein Arzt zu allererst den Kranken nach seinem Befinden, bevor er eine Diagnose stellt und die Behandlung durchführt. Das Bildungssystem Berlin/Brandenburgs ist dieser Patient. Wenn ihm geholfen werden soll, müssen SchülerInnen stärker zu Wort kommen.
Elisa A. ist achtzehn Jahre alt und macht gerade ihr Abitur an einer Berliner Oberschule. Trotz oder gerade wegen ihres Einser-Durchschnitts bedrückt sie ein enormer Leistungsanspruch: „Es wird teilweise so viel Druck ausgeübt und gesagt, es sei so wichtig für unsere Zukunft, das geht an den wenigsten einfach so vorbei. Ich meine, das muss man sich mal vorstellen, man wird einfach jeden Tag bewertet, über Jahre hinweg. Seit ich acht Jahre alt bin, gehe ich jeden Tag in die Schule in dem Wissen, dass fast alles was ich tue bewertet wird. Ich finde das absurd und absolut schrecklich.“ Wenn sich daran nichts ändern würde, so sehe sie die Gefahr von ansteigenden Depressions- und Burnouterkrankungen unter Jugendlichen. Klara W. ist ebenfalls achtzehn Jahre alt und Abiturientin an einem Potsdamer Gymnasium. Sie kritisiert die fehlende Berücksichtigung der Individualität von SchülerInnen: „Ich finde, dass unser Schulsystem bzw. die Lehrinhalte viel individueller angepasst sein müssten, sodass jeder Schüler die Chance bekommt, seine Kurse und Fächer so zu wählen, dass er diese nach seinen eigenen Stärken und Schwächen aufbauen kann.“ Ähnliches sagt Elisa: „Es muss von Anfang an individueller auf die Kinder eingegangen werden und auch später. Wir lernen so komplexe Dinge. Wir behandeln zum Beispiel Neurobiologie und Genetik, das hatten manche Menschen nicht mal im Studium oder eben erst dann, insofern sie Biologie studieren. Das macht einfach keinen Sinn. Man vergisst doch das, was einen nicht interessiert.“ Klara sagt dazu: „Ich sehe Schwächen in Bezug auf relevante Lehrinhalte, die unsere Zukunft betreffen. Das fängt für mich bei der Vorbereitung auf das Berufsleben und die damit zusammenhängende Entscheidung ‚Was will ich überhaupt mal machen?‘ an und endet bei Inhalten, wie das Erstellen einer Steuererklärung, Krankenversicherungen etc. Halt die Dinge, die man braucht, wenn man mal nach der Schule auszieht, erwachsen ist und selbstständig wird.“

Sebastian P., auch 18 Jahre alt und Schulsprecher an einem Berliner Gymnasium, sieht die Notwendigkeit von „mehr Personal an Schulen, welche für die Unterstützung der Lehrkräfte außerhalb des Unterrichts zuständig wäre.“ So könnten zum Beispiel SchulpsychologInnen, SozialarbeiterInnen und mehr Verwaltungspersonal den LehrerInnen viele Aufgaben und Belastungen außerhalb ihres Kompetenzbereiches abnehmen. Wenn diese Art der Überforderung wegfiele, könnte das die Ausfälle von Lehrkräften verringern und dem Bild des Lehrerberufes helfen an Attraktivität zu gewinnen. Auch im Bereich der Digitalisierung würden spätestens seit der Pandemie zusätzliche Stellen den dringend benötigten Aufschwung geben. Dass es die Integration digitaler Lehrmethoden in den Unterricht dringend braucht, sieht auch Klara: „Ich habe das Gefühl, dass man mit Hilfe neuer Medien, wie beispielsweise Smartboards oder auch Online-Angeboten, zum Beispiel ‚Google Classroom’, den Unterricht aufwerten und verbessern könnte. Viele LehrerInnen hängen aber an ihren alten Lehrmethoden, welche meist nicht mehr so effektiv sind. Ob da ein Overheadprojektor und ein Tafelbild immer noch das Richtige ist, wage ich zu bezweifeln. Jedoch können viele LehrerInnen nicht mit den Smartboards oder ähnlichem umgehen.“
Dass die Aussagen der drei SchülerInnen durchaus ernst zu nehmen sind, beweist nicht zuletzt der Vergleich mit wissenschaftlichen Studien und Einschätzungen von ExpertInnen zu diesem Thema. Elisas Sorge um die psychische Verfassung vieler SchülerInnen spiegelt sich in einer jüngst erschienen Umfrage: „Fast jeder zweite Schüler (43 Prozent) leidet laut einer Studie der DAK- Gesundheit unter Stress. Auch eine aktuelle Forsa-Umfrage, die das Nachhilfeportal Studienkreis in Auftrag gab, zeigt, dass bei vielen Schülern im Alter zwischen 12 und 18 Jahren ein Zustand ständiger Belastung vorliegt.“ Ihre Ausführungen zur mangelhaften Individualisierung des Lernstoffs und dessen praxisnaher Aktualitätsbezug, die sich mit den Aussagen von Klara dazu decken, könnten auch von Andreas Schleicher kommen, dem Chefkoordinator der PISA-Studien: „Heute werden unterschiedliche Schülerinnen und Schüler auf die gleiche Art und Weise unterrichtet. In Zukunft müssen Schulsysteme der Vielfalt mit differenzierten Lernmethoden begegnen.“

Ähnlich wie Sebastian sehen auch ExpertInnen, dass mehr Personal benötigt wird, gerade im digitalen Schulbereich. Sie machen darauf aufmerksam, dass „Systemadministratoren, Ed-Tech-Spezialisten oder auch administrative Leitungen Schnittstellenfunktionen übernehmen. Sie bringen Fachkenntnis ein, sorgen für Effizienz, wo es um Effizienz geht, und entlasten so das pädagogische Personal.“
Sebastian zieht viele seiner Verbesserungsvorschläge aus einem Auslandsjahr in Neuseeland, wo er ein ganz anderes Schulsystem kennenlernte, welches darauf ausgelegt ist, das Beste in LehrerInnen und SchülerInnen hervorzubringen. Dort wurde der aktuelle Lehrplan „von mehr als 15.000 Schülern, Lehrern, Eltern und Forschern gemeinsam verfasst.“ Dieser legt seinen Fokus dabei „auf Kohärenz statt Gleichmacherei.“ Die Fortschritte und eventuellen Änderungsbedarfe werden regelmäßig professionell überprüft und wissenschaftliche Erkenntnisse von sogenannten ‚facilitators‘ in den Schulalltag eingebracht und das System entsprechend angepasst. Maßnahmen wie ‚Distance Education‘, Lehrerfortbildungen und -kontrollen, sowie geklärte Finanzierungsfragen stärken das neuseeländische Bildungssystem. Im Vergleich zu Deutschland steht dieses besser da, jedoch sollte nicht vergessen werden, dass die Ausgangslage eine andere ist. Durch die vielen weniger dicht besiedelten Gebiete des Landes spielt ‚Distance Education‘ eine größere Rolle und insgesamt ist die Bevölkerung jünger. Trotzdem eignet sich Neuseeland als ein gutes Positivbeispiel.
Eine produktive Zusammenarbeit von SchülerInnen mit Eltern und WissenschaftlerInnen würde in Berlin/ Brandenburg ebenso zu einer Verbesserung des Bildungssystems beitragen, wie auch die Stimmen der jungen Menschen im bildungspolitischen Geschehen direkt miteinzubeziehen. Sebastian arbeitet aktiv in verschiedenen Gremien daran, diese Stimme hörbar zu machen. Er schlägt vor, „die SchülerInnen direkt dazu zu befragen, was sie sich für Veränderungen im Unterricht und an ihren Schulen wünschen, anstatt ihre Leistungen nur in Vera8 oder PISA-Studien zu überprüfen.“ Dies würde seiner Meinung nach auch das politische Denken der SchülerInnen sowie ihr Gefühl für demokratisches Mitspracherecht stärken. Auch andere SchülervertreterInnen sind davon überzeugt, dass sich die meisten Schülerinnen und Schüler viel mehr mit ihrer Schule und den Lerninhalten identifizieren könnten, wenn die Politik ihnen mehr Mitspracherecht dabei einräumen würde. Klara hat bereits eine positive Erfahrung von Selbstwirksamkeit gemacht: „Bei uns an der Schule war es lange Zeit nicht erlaubt, im Unterricht an Laptops oder Tablets zu arbeiten. Wir SchülerInnen haben uns dafür eingesetzt und unser Anliegen bei der Schulleitung durchgesetzt.“ Denn hier wurde verstanden, dass es sich lohnt auf SchülerInnen zu hören, wenn es um die Zukunft der Schule geht.
Anne Haußner, Nele Damm und Laura Milda Weinheimer