Diskussionen über gesellschaftlichen Zusammenhalt hatten im letzten halben Jahr anlässlich der Corona-Krise Konjunktur. Seit 30 Jahren wären die Deutschen nicht mehr so einverstanden mit den politischen Entscheidungen gewesen wie heute, so der Zukunftsforscher Matthias Horx in einem Deutschlandfunk-Interview im vergangenen Dezember. Mit solidarischen Gesten, wie Angeboten zur Unterstützung beim Einkauf für Angehörige der Risikogruppe, versuchte ein Teil der Zivilgesellschaft gemeinsam gegen das Virus vorzu-gehen und niemanden unsichtbar werden zu lassen. So konnten – zumindest in Einzelfällen – soziale Härten abgefangen werden. Zusammenhalten, das eigene Interesse hintenan-stellen, sich selbst zum Schutz aller zurücknehmen – dies war und ist in Zeiten der Corona-Pandemie ungemein wichtig, um das Virus in den Griff zu bekommen.

Nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der politischen Auseinandersetzung spielte der Begriff des gesellschaftlichen Zusammenhalts eine größere Rolle als zuvor. Auch wenn nicht in jeder politischen Ansprache explizit die Rede von Zusammenhalt und Solidarität war, so schien doch stets ein appellierender Grundton dieser Art mit mitzuschwingen. Beispielhaft für die zahllosen Verweise auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt steht die Rede von Angela Merkel im Plenum des Bundestages im Dezember 2020. Emotional wie selten zuvor forderte sie nicht nur einen härteren Lockdown, sondern beschwor auch die Solidarität aller BürgerInnen. Diese Vorstellung von gesamtgesellschaftlichem Zu-sammenhalt impliziert, dass die Gesellschaft ein handlungsfähiges, einheitliches Subjekt darstellt, das sich im kollektiven „Wir“ ausdrückt. Sie stellte für weiteste Teile der Öffentlichkeit – abgesehen von der kleinen Gruppe der Querdenker, deren Position im öffentlichen Diskurs seit ihrem Aufkommen marginalisiert war – bis zum Jahreswechsel einen Konsens dar. Spätestens in der Debatte um die Impfstrategie hat sich der öffentliche Diskurs zwar gewandelt, die Einhelligkeit ist einer Debattenkultur gewichen; Kritik am Regierungsverhalten gibt es nun auch aus gesellschaftlich anerkannteren Kreisen. Die Vorstellung von gesellschaftlichem Zusammenhalt ist dadurch zwar etwas aus der Öffentlichkeit verschwunden, im Handeln der einzelnen BürgerInnen jedoch nach wie vor effektiv.
Ein Blick auf die Wirtschaft zeigt indessen, dass der benannte Zusammenhalt nicht auf allen gesellschaftlichen Ebenen auf gleiche Weise wirksam zu werden scheint. So schüttete ein Großteil der börsennotierten Konzerne in Deutschland trotz Krise Dividenden in Milliardenhöhe an die Aktionäre aus, während gleichzeitig zehntausende Mitarbeiter in staatlich subventionierte Kurzarbeit geschickt wurden. Adidas beschloss trotz beträchtlichen Gewinnen in den Vorjahren zu Beginn der Krise kurzerhand vorerst keine Ladenmiete mehr zu bezahlen. Lufthansa gab vor wenigen Wochen bekannt, trotz staatlicher Milliardenhilfe 29 000 Mitarbeiter zu entlassen. Daimler kippte mit Verweis auf die Krise bereits ausgehandelte Zusagen zur Sicherung von einer bereits ausgehandelten Betriebsvereinbarung zur Beschäftigungssicherheit und wird wohl weitaus mehr Stellen abbauen als bisher geplant.

Das Verhalten der Unternehmen während der Pandemie scheint sich im Gegensatz zum Verhalten der BürgerInnen nicht von dem in „normalen“ Zeiten zu unterscheiden, es gilt „business as usual“. Überraschend ist das nicht, denn in den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen müssen sie sich zwar bestimmten staatlichen Grundregeln beugen, aber ihr Zweck ist es, das in sie investierte Kapital zu vermehren, also Profit zu erwirtschaften. Der Imperativ der profitorientierten Kapitalverwertung gilt nicht nur für die oben genannten Beispiele, sondern grundsätzlich für jede privatwirtschaftliche Unternehmung. Die Ökonomie als fundamentaler Teil der Gesellschaft unterwirft sich heute also nicht den Zwecken eines kollektiven „Wirs“, sondern generiert aus ihrer eigenen Logik heraus partikulare, vereinzelte Interessen. „Kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert“. Diese Widersprüchlichkeit der Verhältnisse drückt Boris Kanzleiter, Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in einem Interview als Warnung aus: „Wenn jetzt von Regierungen zur Solidarität aufgefordert wird, um die Kosten der Corona-Krise gemeinsam zu tragen, wird dadurch oft verschleiert, dass damit versucht wird, die Kosten auf die Mehrheit abzuwälzen, während eine winzige Minderheit immer reicher wird.“
Zusammenhalt im oben genannten Sinne eines einheitlichen gesellschaftlichen Subjekts gedacht, kann die notwendig partikularen und widersprüchlichen ökonomischen Interessen verdecken und so zu ihrer Durchsetzung benutzt werden. Beobachten ließ sich dieser Vorgang bei den Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes im letzten Herbst. Nachdem Ulrich Mägde, Hauptverhandlungsführer der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), eine Nullrunde forderte, riefen die Gewerkschaft Verdi und der Deutsche Beamtenbund zu Warnstreiks auf. Viele Medien hatten Streiks zu diesem Zeitpunkt als prinzipiell unmoralisch verurteilt. Zu sehr würde die Bevölkerung schon unter den Pandemiefolgen leiden – jetzt müssten Einzelinteressen hintangestellt werden. Die pandemiebedingten Probleme der Bevölkerung und das Einfordern gesellschaftlichen Zusammenhalts im Zuge der Corona-Krise erschwerte den ArbeitnehmerInnen somit das Einstehen für ihr Interesse. Die Streiks seien ein „Anschlag auf die Allgemeinheit“, so Niklas Benrath, der Hauptgeschäftsführer der VKA. Dass es in Tarifkonflikten auch die Arbeitgeberseite mit eigenen Interessen gibt, welche die erschwerte Streiksituation ausnutzen konnte, fiel kaum einer/einem der KommentatorInnen mehr auf. Stellt man sich Gesellschaft als zum einheitlichen Handeln fähiges Subjekt vor, kann schnell aus dem Blick geraten, dass es im Kapitalismus notwendig solche sich widersprechenden ökonomischen Interessen gibt. Gerade in Krisenzeiten ist es daher sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass die Vorstellung von gesamtgesellschaftlichem Zusammenhalt zwei widersprüchliche Funktionen hat: Begreift man ihn einerseits auf individueller Ebene, stellt er Akzeptanz für unangenehme, aber nötige Eingriffe zu Gunsten der Pandemiebekämpfung her und führt zu solidarischem Verhalten angesichts der Krise. Andererseits aber, wenn Zusammenhalt als Ausdrucksform eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts gedacht wird, steckt in ihm das Potential der Verschleierung ökonomischer Konflikte.
Carolin Haselmann, Luise Graw und Julius Spreckelsen