„Wa al aks sachich“ sagt Wadie, mein arabischer Sprachtandempartner. Er kommt aus Syrien, lebt seit einigen Jahren im Norden von Deutschland
und arbeitet dort als Elektroingenieur. Er will sein Deutsch verbessern. Ich habe vor 20 Jahren arabisch gelernt und will das gerade auffrischen. So haben wir uns kennengelernt – über eine Hamburger Sprachtandem-Vermittlung und kommunizieren nun wöchentlich per Videochat. „Analog“ haben wir uns noch nie gesehen. Aber wir haben uns ganz gut kennengelernt und mögen uns.
„Wa al aks sachich.“ – ein arabisches Sprichwort, auf Deutsch: „Auch das Gegenteil stimmt“. Der Satz kann einem durch diese Wochen helfen. In der Gemeinde, in der ich Pfarrer bin, gibt es 1.700 Gemeindeglieder. Wir haben fünf hauptamtliche Mitarbeitende. Die Gemeinde wird geleitet vom Gemeindekirchenrat, dem ich angehöre, und acht gewählten „Ältesten“. Wir sind insofern Spiegel der Gesellschaft, als es bei uns unter den Schwestern und Brüdern Christi die Meinungen und Haltungen gibt, die man sonst auch findet: Leute, die Corona für eine andere Form der Grippe halten und die ganze Aufregung nicht verstehen. Andere, die ernstlich besorgt sind, um die Situation in Potsdam, in Deutschland, in der Welt. Viele sind verunsichert; Eltern sind überlastet; Jugendliche warten darauf, dass das Leben nach der Schule losgeht; manche Senioren klagen über die Einsamkeit. Doch gerade viele der Älteren sind auch sehr entspannt und sagen: Wir haben schon ganz Anderes überstanden. „Auf dem Sofa sitzen, um gesund zu bleiben, finde ich jetzt nicht so schlimm“, erklärt mir eine Dame und wundert sich über die Leute, die gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren. Was soll der Stress?
Während man zu normalen Zeiten mal nicht einer Meinung ist und ganz gut damit lebt, mussten wir im letzten Jahr schauen, wie wir uns mit unseren unterschiedlichen Haltungen zur Pandemie umgehen und uns damit nicht auf die Füße treten. Wobei: man tritt sich auf die Füße. Es bleibt kaum aus. Die einen sind über diese Entscheidung oder Haltung enttäuscht, die anderen über jene.
Für Seelsorge, Diakonie, Gottesdienst und Unterricht braucht es in der Regel körperliche Anwesenheit und Zuwendung. Doch Nähe war im letzten Jahr nicht immer Ausdruck gelebter Nächstenliebe. So streiten auch bei „Kirchens“ die Menschen über den richtigen Weg, den es gerade nicht gibt.

„Wa al aks sachich.“ Es ist wohl beides richtig: Der Mensch lebt nicht allein dadurch, gesund zu bleiben. Er lebt auch von den Beziehungen, die er hat und der Möglichkeit, anderen Menschen zu begegnen. Als Kirchengemeinde wollten wir trotzdem nicht durch Gottesdienste oder andere Veranstaltungen die Situation in Potsdam verschlimmern und so zur Überlastung der Kliniken beitragen. Als Seelsorger überlegte ich, wie ich die Menschen nicht im Stich lasse und doch Rücksicht nehme auf die Gefahren der Ansteckung durch Besuche. Ich habe bis jetzt keine Ideallösung gefunden und hoffe, dass es trotzdem gut sein wird. So gab es Zeiten, in denen gar keine Gottesdienste stattfanden. Manchmal versammelten wir uns draußen, wenn die Situation es zuließ, um auch gemeinsam singen zu können. In der Adventszeit feierten wir Gottesdienste zusammen mit SchauspielerInnen des Hans-Otto-Theaters und brachten literarische und biblische Texte zusammen. Wir haben in diesem letzten Jahr viele Mails und Briefe an die Gemeindemitglieder, an der Gemeinde nahestehende Menschen und an die Bewohner der umliegenden Seniorenheime geschrieben. Einige ältere Gemeindeglieder oder die, die es wünschen, bekommen seit dem Frühjahr 2020 Post mit den aktuellen Informationen zum Gemeindeleben oder mit Andachten für die Woche. Es gab Gottesdienste zum Sehen als Video auf YouTube, wenn wir Gottesdienste in der Kirche feiern konnten, wurden diese auch live übertragen. Die Qualität war zwar anfangs nicht besonders gut, aber denen, die aus beruflichen oder privaten Gründen gerade nicht an Versammlungen teilnehmen können, war das egal. Sie hatten so das Gefühl, „dabei zu sein“. Wir haben Gottesdienste per Videokonferenz gefeiert, bei denen wir sehr intensiv über biblische Texte ins Gespräch kamen, was auf diese Art in der Kirche gar nicht möglich ist. Wir haben auch zum „Hausabendmahl“ eingeladen und die TeilnehmerInnen haben sich dann zur Videokonferenz getroffen, um dieses Hausabendmahl gemeinsam zu feiern. Das hat mich am meisten überrascht, dass über ein solches Medium eine sehr intime und geistlich starke Gemeinschaft entstand. “Not macht erfinderisch“. Viel Neues haben wir ausprobiert und uns so auch neu kennengelernt. Das war nicht schlecht. Auch wenn sich die Menschen nach den „alten Zeiten“ sehnen.
Vor den hohen Feiertagen im Frühjahr haben Kirchengemeinden diskutiert, wie die Karwoche und Ostern in diesem Jahr begangen werden und ob wir uns überhaupt in der Kirche versammeln können. Wir haben als Kirchengemeinden mehr Freiheiten als Andere, aber das ist auch eine sehr große Verantwortung.
„Ostern findet statt“ sagten manche KollegInnen bereits letztes Jahr tapfer und auch 2021 war dieser Satz öfter zu hören. Hören sollen die Leute: Ob wir das nun als Gottesdienst in den Kirchen begehen oder als Haus-Gottesdienst feiern oder per Video übertragen: „Christus – für uns gestorben – ist auferstanden.“
Christus – Für wen gestorben?
Wir Christen glauben ja, dass Jesus Christus für uns Menschen gelebt hat und für uns gestorben ist. Für manche ist das eine komische Vorstellung: Warum sollte jemand für mich gestorben sein? Auch für uns Christen ist unser Glaube nicht „selbstverständlich“, oder so einleuchtend wie eine mathematische Gleichung. Aber diese Hoffnungserzählung bewährt sich doch bei vielen in ihrem Leben. Sie schöpfen Kraft aus diesem Glauben – und wenn es die Kraft ist, zu klagen, und unserem Gott in den Ohren zu liegen, dass es besser werde.
In unserer Gemeinde kommen ganz verschiedene Menschen zusammen, die miteinander ihren Glauben teilen, ihren Gott loben, oder eben die Alltagsprobleme haben, die wir alle gerade kennen.
Frau Hartmann ist 96 und wartet geduldig auf ihre Impfung. Ich bemühe mich drum, aber es ist kein Durchkommen bei der Hotline. Ein freundlicher Mensch nimmt am Corona-Info-Telefon ab, kann aber auch nicht weiterhelfen. Der Pressesprecher der Gesundheitsministerin hält es nicht für nötig, auf meine Anfrage dazu zu antworten. Am Ende kommt überraschend die Nachricht, dass Frau Hartmann einen Termin im Ernst-von-Bergmann-Klinikum hat. Sie ist nun doch sehr beruhigt, geimpft zu sein und schon ihren zweiten Termin zu haben.
Frau Möbius aus dem Seniorenheim fragt, ob es nicht wieder Andachten geben könne – es seien jetzt alle Mitbewohner geimpft. Wie schön. Das will ich gerne machen und frage im Seniorenheim, was sie davon halten. Im Februar war ich das letzte Mal dort. Dann gab es dort Corona-Fälle und ich konnte das Heim nicht mehr betreten.
Alex ist ein Flüchtling aus Serbien. Er hat eine Kriegsverletzung. Ich weiß gar nicht genau, was er im Krieg gemacht hat. Ob er Täter war, Opfer, beides? Jetzt taucht er regelmäßig auf und bittet um etwas Arbeit im Garten oder um Essen, Geld, Pfandflaschen. Er hat vor längerem das Vaterunser gelernt, worauf er sehr stolz ist. Manchmal erschreckt er sich über die Nachrichten auf YouTube, wenn dort z. B. ein schreckliches Weltende angekündigt wird. „Niemand weiß Tag noch Stunde“, hat Christus gesagt – sage ich ihm. Das beruhigt ihn manchmal. „Christus mit uns“, ruft er mir gerne zum Abschied zu und macht sich dann auf den Weg.

In unserer Gemeinde haben wir Jugendliche, die sich in zwei Jahren auf die Konfirmation vorbereiten. Auch für sie war das nun eine sehr ungewöhnliche Zeit. Sie konnten sich oft nur in einer Videokonferenz treffen. Im Februar haben wir per Video Fasching gefeiert und uns Gedanken über das Fasten gemacht. Das war lustig. Aber natürlich fehlt auf Dauer doch das persönliche Treffen mit den Gesprächen zwischendrin und den Fragen, wie es geht. Manchmal schicken wir auch schöne Briefe mit kleinen Sachen, über die sie sich hoffentlich freuen. Zum Beispiel eine Kreide, um zum 6.1. über die Tür zu schreiben: CMB 2021, ein Segensspruch zum Dreikönigstag. Oder jetzt vor Ostern Samen zum Aussäen, die an Jesu Spruch erinnern: „Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und stirbt, bringt es viel Frucht.“
Es sind für uns aufregende Zeiten. Ein Auf und Ab. Ich habe selten so viel Dank gesagt bekommen wie im letzten Jahr für das, was sonst so selbstverständlich scheint: für den Gottesdienst, der stattfinden kann. Für den Brief, der kam. Für den Anruf. Aber natürlich auch hin und wieder der Frust über diese lange Dauer und das zähe Warten auf Normalität.
Wir haben nun Ostern in der Kirche gefeiert – in diesem Jahr mit kleiner Gemeinde, ganz früh konnten die Menschen in die Kirche kommen und sich ein Licht an unserer Osterkerze entzünden und damit in den neuen Tag gehen. Ab 5.30 Uhr war die Kirche offen, um 6.30 Uhr hörten wir die Ostergeschichte von der Auferstehung Jesu. Wir begrüßten einander mit dem Osterruf „Christus ist erstanden“ und gingen in den neuen Tag.
Der Jesuit Friedrich Spee hat 300 Jahre vor Nietzsches Ende Gottes Tod besungen; in seinem Passionslied heißt es: „Welch große Not, Gott selbst liegt tot.“ Was für ein Text: Gott selbst liegt tot! – Zu Ostern sagen wir sozusagen: „Wa al aks sachich …“ Gottes Sohn ist auferstanden!
Wadie feiert Karfreitag und Ostern erst im Mai. Er ist ja syrisch-orthodox. Schwer zu sagen, wie die Situation dann sein wird. Aber das haben wir ja gelernt in diesem Jahr: zu schauen, was die Zeit bringt und flexibel zu reagieren. Gut, wenn man dann ein starkes Rückgrat hat.
Simon Kuntze