Home-Office, Online-Käufe, Sportkurse über Videos: Es scheint dieser Tage, als seien alle grundlegende Alltagshandlungen über das Internet zu bewerkstelligen. Die digitale Technik flexibilisiert mit Zoom-Meetings, Chaträumen, Audionachrichten menschliche Beziehungen, durchdringt dabei jederzeit die Privatsphäre und macht in mancher Hinsicht realen Menschenkontakt obsolet. Die differenzierte soziale Vernetzung reduziert nicht nur lästige Wartezeiten, sondern auch den physischen Kontakt zu Menschen und sollte einem sozialen Wesen ein Denkanstoß geben: Fast ein Drittel der Deutschen fühlen sich wegen der unpersönlichen Kontaktaufnahme einsam. Welche Auswirkungen hat die digitale Kommunikation auf das menschliche Miteinander?
Die neuen Kommunikationsstrukturen über das Internet fordern die Menschen heraus: Sie benötigen einen gleichermäßigen Zugang aller Menschen zu digitalen Plattformen, damit diese weiterhin an der Interaktion sowie Gemeinschaft teilnehmen können. Sonst droht die Gefahr einer Ausgrenzung von allen digital sozialisierten Bereichen
Auch nimmt die Geschwindigkeit des Austauschs rasant zu. Die Anzahl der weltweiten Nachrichten über WhatsApp hat sich innerhalb von 3,5 Jahren mehr als verdoppelt. „Die technische Beschleunigung, die häufig mit der Einführung neuer Technologien […] einhergeht, bringt beinahe unweigerlich eine ganze Reihe von Veränderungen in sozialen Praktiken, Kommunikationsstrukturen und Lebensformen.“ (Rosa 2014). Konkret bedeutet dies, dass Gestiken, Mimik, verbale Sprache und die Tonlage über die Plattformen eingeschränkt werden, insbesondere im zunehmenden Schriftverkehr über WhatsApp, E-Mail und co.. Technische Möglichkeiten wie Sprachaufnahmen, Videotelefonat oder Emojicons sollen die fehlenden Informationen ausgleichen und eine virtuelle Nähe aus der Distanz kreieren.

Doch diese sogenannte „soziodigitale Nachbarschaft“, d.h. die Integration von sozialer Interaktionen und Digitalisierung, bergen die Gefahr einer sozialen Desintegration, denn die technischen Geräte ermöglichen uns, von unmittelbaren Einzelkontakten unabhängig zu werden. Dort wo uns noch vor einigen Jahren ein Mensch gegenüberstand, sehen wir nun ein technisches Gerät. Es wird kein Mensch mehr am Bankschalter benötigt, wenn die Technik jene Aufgaben übernehmen kann. Sogar in der Pflege ist ein künftiger Einsatz von Robotern, die menschliche Handlungen übernehmen, sehr wahrscheinlich. Ethische Diskussionen betonten zwar, dass die Technik und Digitalisierung keinen Ersatz für echte soziale Beziehungen darstellt. Dennoch werden sukzessive echte Begegnungen reduziert, auch außerhalb von Institutionen. Denn diese Dynamik kann auch auf reale Treffen übergehen, seien es Privattreffen, Firmentreffen oder Nachbarschaftstreffen. Wenn bequem und flexibel über die modernen Kommunikationswege ein digitales Treffen stattfinden kann, wieso sich Umstände machen?
Dabei ist es jederzeit möglich, zwischenmenschliche Konflikte und Unannehmlichkeiten zu vermeiden, indem Kontakte blockiert, Nachrichten des Gesprächspartners ignoriert oder gelöscht werden. Jenes geschieht beim sogenannten „Ghosting“. Es beschreibt einen plötzlichen Kontaktabbruch, ohne Angabe von Gründen. Dieses Phänomen ist im Internet weiterverbreitet, weil dort soziale Kontakte häufig unverbindlich und austauschbar sind. Oftmals hinterlässt es bei den Betroffenen tiefe Wunden und kann Bindungsschwierigkeiten sowie Misstrauen verursachen.
Die entgrenzende Vernetzung ermöglicht zwar ein Finden und Verfestigen sozialer Kontakte, reduziert sie aber auch auf das Wesentliche und hält sie oberflächlich. Mit ihr nehmen lose, zweckmäßige und temporäre Kontakte deutlich zu. Sogenannte „weak ties“ (Üblacker 2019: 144) waren im vordigitalen Zeitalter räumliche Nachbarn oder Arbeitskollegen. Sie finden sich heutzutage im Internet verstreut als Entertainer, Abonnent, Kommentator oder Ratgeber wieder und werden dabei häufig für den eigenen sozialen Status und Nutzen instrumentalisiert. Dabei sind es aber gerade die „strong ties“ (ebd.), also tiefgründige, stabile, emotionale soziale Verbindungen, die für Gesundheit des Menschen essenziell sind. Das gilt insbesondere für physische Nähe, für die es kein Ersatz gibt. Denn: „Der Mensch ist ein Geborgenheitswesen. Er sucht ein Leben lang nach […] Wärme, Zuwendung, Hinwendung und Herzenswärme […]. Diese Merkmale sind typisch dafür, wie Menschen ihre eigene Geborgenheit erleben und erfahren möchten.“ (Mogel 2016: 10).
Doch können digitale Interaktionen Wärme, Zuwendung und Herzenswärme vermitteln? Oder sind soziodigitale Nachbarn lediglich ein „sozialer Snack“, wie es die Verhaltensforscherin Jenna Clark bezeichnet, welcher nur scheinbar soziale Bedürfnisse befriedigt und langfristig ein Gefühl der Einsamkeit nährt? Mit Blick auf die derzeitigen Entwicklungen scheint durchaus sinnvoll, seinen eigenen Bezug zu Menschen zu reflektieren und abzuwägen, ob distanzierte, lose Kontakte oder nahe, tiefgehende Kontakte gesundheitsförderlicher und wohltuender sind und dementsprechend zu priorisieren. Natürlich steht außer Frage, dass digitale Kommunikationsräume als sinnvolle Ergänzung zur Verfestigung der strong ties genutzt werden können. Wir sollten allerdings sparsam mit digitaler Kommunikation umgehen und unsere Zeit und Kraft für reale Treffen sowie face-to-face Kommunikation bereithalten, denn nur diese schafft Geborgenheit, Vertrauen und Nähe.
Maj-Britt Klages, Marcel Maier & Melisa Meral