Als ich den Vorhang in meinem Schlafzimmer zur Seite zog, das Fenster öffnete und einen Blick nach draußen warf, ahnte ich bereits, dass ich später zur Arbeit kommen würde. Die Tage verloren sich seit Monaten in meinem Büro, meine Kräfte wurden von Leuten aufgesaugt, die mich dort umgaben, noch mehr jedoch von denjenigen, die mir mehrheitlich in der digitalen Welt auflauerten und unter vorgeschobener Anonymität ihrem Treiben nachgingen.
Ich öffnete die Schlafzimmertür und wurde von einem Sonnenaufgang verzaubert, der meiner momentanen Welt die Prioritäten wieder zuordnete. Gefesselt von einem glühenden Horizont, umsäumt von dunkelgefärbten Dächern und einem rosaroten Wolkenteppich über dem die Unendlichkeit schwebt, stand ich fassungslos vor dem Weltpanorama. Der Gedanke, dass ich zu spät kommen würde, verstummte.

Heute Morgen entschied ich mich für die Schönheit und gegen die Zeit; ich entschied mich für mich und gegen das erdrückende Vakuum von Verpflichtungen, Chaos und Ungewissheit. Es schien als blieb die Welt stehen, nur die Sonne, die sich Stück für Stück an das Firmament schob.
Erlöst von der Schwere der letzten Monate begab ich mich mit einem Hörbuch auf den Ohren auf den Weg; seit mehreren Wochen lief ich 25 Minuten zur Haltestelle, nahm dann eine Tram und lief noch einmal 20 Minuten – all das nur um so wenig Kontakte wie möglich zu haben. Es war bitterkalt. Vielleicht empfand ich es auch nur so, weil ich zu wenig geschlafen hatte.
Kurz vor der Ampel an der großen Kreuzung, meinem ersten Zwischenziel, starb Martin unerwartet. Ich stoppte das Hörbuch. Die Kopfhörer behielt ich auf den Ohren; die Kreuzung benötigte meine komplette Konzentration. Das Surren der unzähligen Autos, die Lichter der Ampeln, die Bewegungen der einzelnen Radfahrer und Fußgänger in einer unkoordinierten Choreografie, die mein Gehirn nicht verarbeiten kann; erst rauscht es in den Ohren, Unterdruck im Kopf, Tunnelblick, dann wird mir schwindlig, manchmal falle ich um. Heute nicht; ich lief als die Ampel auf grün sprang, kontrolliert in schnellen Schritten über die Kreuzung hin zur Haltestelle. Die Tram ließ nicht lange auf sich warten, ich stieg ein, atmete kurz und versuchte mich zu entspannen. Erstaunlich viele Menschen umgaben mich. Noch in der Tram entschied ich mich auf meinem Weg ins Büro beim Bäcker vorbeizugehen und heute keine Plätzchen zum Frühstück zu essen – ich hatte Appetit auf ein Croissant. An der Endhaltestelle stieg ich aus, mit mir eine Frau mit Kinderwagen und einem weiteren Kind, die bestimmt auf dem Weg zur nahgelegenen Kita waren. Ich überquerte die Straße, auf den Ohren wieder das Hörbuch.
Der Eingangsbereich der Kita erinnert mich an einen Drive-in Schalter. Die Autoschlange vor der Einfahrt ist mehrere Autos lang, sobald ein Parkplatz frei wird, huscht ein anderes hinein. In meinen Gedanken werden die Kinder durch eine geöffnete Fensterscheibe abgeworfen – ein subtiler Anflug von Ruhe und Freiheit nach dem Abwurf, kurze Reflektion – Fenster hoch, Rückwärtsgang rein, ohne Umwege zur Arbeit. Die abgeworfenen Kinder, stehen nun da wie kleine Sandsäcke, starr und mit einer unverzeihlichen Traurigkeit in den Augen, der kein Trost entgegenstehen konnte.
Während ich mich in diesem Gedankenspiel verlor, war ich schon fast in der Bäckerei angekommen. Das Hörbuch musste ich zurückspulen. Ich kaufte ein Croissant und betrat nach einer knappen Stunde gut gelaunt mein Büro. Meiner Routine folgend ging ich erst in das eine Büro, Tasche abstellen, Hände waschen, Fenster öffnen, schauen ob alles in Ordnung ist, Sachen packen, Post mitnehmen, Fenster und Tür verschließen, ein kurzer Weg über den Innenhof in das nächste Gebäude, wieder raus, Treppe hoch, Büro zwei auf, ankommen. Es erwartete mich nichts Aufregendes; kaum E-Mails und das Telefon verhielt sich erstaunlich ruhig. Der vorgezogene Lockdown-Urlaub war im gesamten Gebäude spürbar. Der Vormittag war vorbeigeflogen, es gab vieles zu erledigen; gegen 12.30 Uhr wechselte ich das Büro.
Alle sind erschöpft.
Als die Sonne langsam unterging, nahm ich mir Zeit an einem Projekt weiterzuarbeiten. Es war lange her, seit ich meine Gedanken so klar verschriftlichen konnte, wie an diesem Nachmittag. Die Kreativität zu spüren, sie umzusetzen, das war es, was mir der Alltag nahm. Zu funktionieren hatte ich gelernt; dass zum Funktionieren auch Treibstoff benötigt wird, lernt man erst, wenn er fehlt. Mit einer anhaltenden inneren Ruhe und Sorgfalt schrieb ich. Um dem Baggerlärm vor der Tür zu entfliehen, trug ich Kopfhörer, ich zerfloss mit den Buchstaben im Takt der sanften Klavierklänge. Der Tee neben mir ist kalt geworden. Ich schrieb mich in die Unendlichkeit.
Die Endlichkeit hatte mich wieder, nachdem eine Hiobsbotschaft meiner Familie auf dem Display aufleuchtete. Eine Hitzewelle überrannte meine Gedanken, mein Blut kristallisierte und kratzte sich entlang der Venen, die Hände wurden kalt, ich stand auf, lief auf und ab, versuchte regelmäßig zu atmen, begann mit mir selbst zu reden, setzte mich wieder. Chaos. Viele Nachrichten wurden ausgetauscht. Immer wieder fielen vereinzelte Tränen aus meinen Augen. Ich kam nicht wieder zur Ruhe, fassungslos saß ich vor dem Bildschirm.
Mein Chef öffnete seine Tür, sein letztes Meeting war beendet, er nahm an meinem Schreibtisch Platz. Immer wenn er sich an meinen Tisch setzte, wollte er reden. Seine Bedrückung war leicht zu erkennen, eine weitere Hiobsbotschaft folgte. Nun saßen wir beide verloren da.
Verwundert über diesen grotesk anmutenden Tag, entschied ich mich für einen anderen Rückweg um einen klaren Kopf zu bekommen; ich musste eine Distanz zwischen den Vorfällen und mir schaffen. Ich spürte wie mich die Gedanken zogen, sie zogen in eine Richtung, in die ich nicht wollte. Es war dunkel, die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern der toten Wohnungen leuchtet für alle Draußengebliebenen.
Konnte ich Trost spenden?, wollte ich Trost spenden?, musste ich Trost spenden, wo ich doch selbst am Ertrinken war? oder war es mein narzisstisches Verlangen, das mich aus der Bahn gleiten lies? Die Vorstellungen, die Pläne, die nicht so eintreffen? Die Entscheidungen, die gefällt werden, ohne dass es einen Wald gibt?
Ich lief ohne meine Umgebung wahrzunehmen, lief vor mir weg und kam irgendwann zu Hause an. Dem geselligen Online-Abend präsentierte ich eine überzogene Geschichte, humoresk ausgestaltet, damit ich selbst nicht unterging. Die Freundin, die spontan an meiner Wohnungstür klingelte um Plätzchen abzuholen und unterhalten zu werden, wimmelte ich ab. Das Geschirr stapelte sich in der Spüle, ich ging trotzdem ins Bett, nahm mein Telefon zur Hand und entschuldigte mich nochmals fürs Abwimmeln. Vier Nachrichten später legte ich das Telefon zur Seite, schloss die Augen. Die Rezeptoren meiner Augen ließen bunte Lichtblitze in mein Gehirn schießen. Es war Dienstag.
Seitdem ist ein Jahr vergangen. Die regenverhangenen Wolken verschlungen den Sonnenaufgang. Vor der Kita parkten heute zwei einzelne Autos – Kinder waren nicht zu sehen. In der Bäckerei kaufte ich heute kein Croissant. Im Büro ist es ruhig, viele sind im Homeoffice, Quarantäne oder Urlaub. Der Tee ist auch heute kalt geworden. Wenn ich nach Hause komme, werde ich das Geschirr in meiner Spüle abwaschen. Es ist Dienstag.
Hani