Aus der Interviewreihe „Transformation & Praxis“ / Nr. 1 – Organisationen im Wandel

Der Begriff „transformation“ taucht seit einigen Jahren immer mehr auf. Auch in der Forschung an der Universität Potsdam gibt es fundamentalen und dauerhaften Wandel. In unserer Reihe „Transformation & Praxis” möchten wir Forschende/ WissenschaftlerInnen (der Universität Potsdam) und ihre Arbeit(en) in einem schriftlichen Interview vorstellen.

Interview mit Henrik Dosdall, Assoziierter Wissenschaftler an der Universität Potsdam im Bereich der Organisations- und Verwaltungssoziologie

Lieber Herr Dosdall, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, uns unsere Fragen zu beantworten!

Sie beschäftigen sich in ihrer Arbeit mit Organisationen und Institutionen, die in unseren Gesellschaften eine so zentrale Rolle spielen und die uns im Alltag als die großen Garanten für Stabilität erscheinen. Dennoch, und das leuchtet einem sofort ein, wenn man sich mit ihren Arbeiten beschäftigt, gibt es in diesen Organisationen immer einen konstanten Wandel. Welche sind momentan aus Ihrer Sicht die größten Kräfte, die solche Wandel vorantreiben?

Organisationen wandeln sich ja kontinuierlich, da es sich letztlich um adaptive Systeme handelt, wobei dies natürlich nicht bedeutet, dass Organisationen immer das Richtige und/oder schnell genug lernen. Die zentralen Treiber solcher Anpassungsprozesse zu bestimmen, ist eine Herausforderung. Sicherlich ist die zunehmende Prominenz digitaler Technologien ein Treiber organisationalen Wandels; ob dieser dann aber disruptiv oder inkrementell ausfällt, ist eine offene Frage. Die Forschungen, die ich in dieser Hinsicht mit meiner Kollegin Stefanie Büchner von der Universität Hannover durchgeführt habe, deuten eher auf einen langsamen Wandel durch digitale Technologien hin. Anders formuliert: Wie stark dieser Wandel jeweils ausfällt, ist überraschend heterogen und oft weniger transformativ als weithin angenommen. Wir beobachten hier starke Unterschiede zwischen verschiedenen Handlungsfeldern und verschiedenen Organisationstypen. Für das Transformationspotenzial algorithmischer Technologien macht es also einen Unterschied, ob diese in Universitäten, Polizeien, Krankenhäusern, Sozialverwaltungen oder Gerichten implementiert werden. Ungeachtet dessen ist die Digitalisierung aber sicher ein wichtiger und aktueller Treiber von Veränderungsprozessen.

In einem Ihrer letzten Artikel haben Sie sich mit der Gleichstellung in der Bundeswehr beschäftigt1. Schaut man sich die Zahlen an, dann haben andere Länder teilweise deutlich höhere Frauenanteile. In Israel und Norwegen ist jeweils knapp ein Drittel der Streitkräfte weiblich. Mit und ohne Wehrpflicht. Warum ist der in der Bundeswehr so niedrig? 

Um diese Frage zu beantworten, würde ich an dieser Stelle gerne auf die Arbeiten von Maja Apelt verweisen, die sich ausgiebig mit der Bundeswehr aus Organisations- und Gleichstellungsperspektive beschäftigt hat. Ihre Arbeiten zeigen, dass die Bundeswehr trotz vielfältiger Reformversuche nach wie vor männerbündisch geprägt ist. Dies spielt sicherlich eine große Rolle für den vergleichsweise niedrigeren Frauenanteil. Zu nennen sind in dieser Hinsicht aber auch gesellschaftliche verankerte Geschlechtervorstellungen.
Um diese Frage zu beantworten, würde ich an dieser Stelle gerne auf die Arbeiten von Maja Apelt verweisen, die sich ausgiebig mit der Bundeswehr aus Organisations- und Gleichstellungsperspektive beschäftigt hat. Ihre Arbeiten zeigen, dass die Bundeswehr trotz vielfältiger Reformversuche nach wie vor männerbündisch geprägt ist. Dies spielt sicherlich eine große Rolle für den vergleichsweise niedrigeren Frauenanteil. Zu nennen sind in dieser Hinsicht aber auch gesellschaftliche verankerte Geschlechtervorstellungen.

Der angesprochene Artikel ist im Zuge des durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes Recht-Geschlecht-Kollektiv am Lehrstuhl von Maja Apelt für Organisations- und Verwaltungssoziologie der Universität Potsdam entstanden. Das Ziel war, die Beziehung von Recht und Organisationen am Fall der Umsetzung des Gleichstellungsrechtes in der Bundeswehr zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bundeswehr das Gleichstellungsrecht vor allem als manageriales Instrument einsetzt, um sich als attraktive Arbeitgeberin darzustellen. D.h. der Fokus liegt auf der Nutzung des Gleichstellungsrechts zur Außendarstellung; weniger darauf, das Gleichstellungsrecht im gesetzgeberischen Sinne in der Organisation umzusetzen. In dieser Hinsicht gibt es zwar vielfältige Anstrengungen, aber eben auch hohe Hürden, die bspw. aus der Stellung der Gleichstellungsbeauftragten im organisationalen Gefüge erwachsen. Auch dies kann eine Rolle dabei spielen, dass die Bundeswehr bei Bewerbern beliebter ist als bei Bewerberinnen.

Ihrer Forschung zufolge hatte die Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2011 großen Einfluss auf den Anstieg des Frauenanteils in der Bundeswehr. Halten Sie das für einen kurzlebigen Effekt oder verändert sich dort gerade etwas Grundlegendes?

Ich würde gerne etwas ausholen, um auf diese Frage einzugehen. Frühere Arbeiten von Maja Apelt haben gezeigt, dass die Wehrpflicht die männerbündische Qualität der Bundeswehr verstärkt, da sie festlegte, dass nur Männer Mitglieder werden mussten. Die Abschaffung der Wehrpflicht hat insofern zu einer Lockerung des Verhältnisses von Bundeswehr und Männlichkeit geführt. Die obige Forschung schließt hier an, indem sie zeigt, dass mit der abgeschafften Wehrpflicht Frauen als relevantes Arbeitsmarktsegment für die Bundeswehr stärker in Erscheinung treten. Wenn man auf einmal um Personal werben muss, anstatt es automatisch zu bekommen, ist es ja durchaus sinnvoll, dies bei allen Personen zu tun, die sich derzeit auf dem Arbeitsmarkt befinden; und nicht nur bei den männlichen 50%. Dies ist sicher kein Strohfeuer, ob es aber zu einer grundlegenden Änderung der Bundeswehr führt, kann ich nicht abschließend beurteilen. In Auseinandersetzung mit einer früheren Studie haben wir aber argumentiert, dass sich in der Tat beobachten lässt, dass es zu Veränderungen kommt; die gesetzgeberischen Änderungswünsche werden nicht mehr einfach nur abgeblockt.

In einem anderen aktuellen Artikel haben Sie sich zusammen mit Frau Stefanie Büchner mit der Einführung von Algorithmen als Entscheidungsstützen in Organisationen befasst2. Was verändert sich durch die Einführung von Programmen wie etwa dem von Ihnen beschriebenen Arbeitsmarktalgorithmus in Österreich?

Der Artikel ist in einem Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie erschienen, den Bettina Heintz und Theresa Wobbe herausgegeben haben und der sich Praktiken des Vergleichens und Bewertens widmet. Unser Anliegen war, diese Vergleichs- und Bewertungspraktiken in der Interaktion zwischen Organisationen und einem spezifischen Algorithmus auszuleuchten. Den Algorithmus setzte der Österreichische Arbeitsmarktservice von 2018-2020 ein, um arbeitssuchende Personen hinsichtlich ihre Re-Integrationswahrscheinlichkeit in den Arbeitsmarkt zu beurteilen. Wir zeigen, wie der Algorithmus konkret in die Organisation eingebettet war. Das muss man vor dem Hintergrund sehen, dass die Debatte um den Einsatz von Algorithmen normalerweise auf einen von zwei Bereichen fokussiert: Den Algorithmus im engeren Sinne und menschliche Nutzer:innen. Am Beispiel des AMS lässt sich zeigen, dass Organisationen als soziale Systeme hier jedoch ebenfalls eine Schlüsselstellung einnehmen. Dies liegt zunächst daran, dass Menschen als Entscheider:innen in Sozialverwaltungen zunächst einmal in ihrer Eigenschaft als Organisationsmitglieder entscheiden. Weiterhin werden digitale Technologien nicht aus sich heraus wirksam, sondern werden durch ihre spezifische organisationale Einbettung wirksam gemacht. Im untersuchten Fall geschah dies, indem der Algorithmus in den Entscheidungsketten der Organisation früh und prominent platziert wurde. Je nachdem welche Re-Integrationswahrscheinlichkeit der Algorithmus berechnete, eröffneten oder verschlossen sich bestimmte Möglichkeiten der Unterstützung. Zudem spielen Organisationen aber auch als Arbeitskontext eine große Rolle. Entscheidungen werden sich oft idealisiert vorgestellt. Tatsächlich aber arbeiten Menschen immer unter konkreten Arbeitsbedingungen, die von Organisationen strukturiert werden. Im Fall der Arbeitsvermittlung bedeutete dies, dass die Entscheider:innen für eine bestimmte Anzahl von Fällen verantwortlich sind, aber nur begrenzte Zeit pro Person haben. Dies wiederum wirkt sich auf die Rolle von Algorithmen in Organisationen aus. So ist es bspw. sehr voraussetzungsreich, die algorithmisch vorgeschlagene Einstufung einer Person hinsichtlich ihrer Re-Integrationswahrscheinlichkeit unter hoher Arbeitsbelastung zu korrigieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist erneut, dass die Entfaltung solcher Algorithmen in Sozialverwaltungen anders abläuft als in Unternehmen. Für das Verhältnis von Organisationen und Algorithmen macht es also einen Unterschied, ob die Organisation Gewinne generieren und neue Geschäftsfelder erschließen will oder ob sie mit begrenzten und oft knapper werdenden Ressourcen an der Lösung des Problems Arbeitslosigkeit arbeitet.

Sie schreiben darüber hinaus, dass solche Algorithmen selbst dann Ihren Einfluss in die Entscheidungsfindung in den Organisationen verstärken, wenn sie Fehler machen. Woran liegt das?

Der primäre Grund dafür liegt sicher darin, dass ein eventueller algorithmischer Fehler als solcher oft nicht identifiziert werden kann, da die algorithmischen Operationen für die Nutzer:innen weder durchschaubar noch nachvollziehbar sind. Hinzu kommt in organisierten Kontexten die eben erwähnte Arbeitsbelastung. Ist die Arbeitsbelastung hoch, ist eher davon auszugehen, dass in der Praxis algorithmische Entscheidungen bestätigt, nicht aber hinterfragt wurden.

Gebe es aus Ihrer Sicht Möglichkeiten, derartige Probleme zu umgehen?

Das ist eine schwierige Frage, weil sich natürlich auch Entscheidungen, die nicht algorithmisch informiert sind, als falsch erweisen können. „Menschliche“ Entscheidungen sind folglich kein Garant dafür, dass richtige Entscheidungen getroffen werden können. Ungeachtet dessen hilft es sicherlich, unter Mitarbeiter:innen ein Bewusstsein für die Fallstricke algorithmischer Technologien zu schaffen. Ein zweiter Punkt liegt darin, den oben erwähnten Umständen entgegenzuwirken, indem Zeit zugestanden wird, um die Adäquanz algorithmischer Entscheidungen zu reflektieren.

Mit der Covid-19-Krise gab es ja auch in Deutschland verstärkt Forderungen nach mehr Digitalisierung der Behörden, Ämter und Verwaltungen. Wie, denken Sie, wird die Entwicklung hier in den kommenden Jahren aussehen? Stehen wir vor einer grundlegenden Reform unserer staatlichen Organisationen?

Es gibt ja einmal die Forderung, antiquierte bürokratische Arbeitsweisen zu aktualisieren, also behördliche Kommunikation bspw. nicht mehr unbedingt über Faxgeräte zu organisieren. Solch eine Entwicklung hin zu einer zeitgemäßen Kommunikation – auch und gerade im Umgang mit Bürger:innen – wird die Pandemie hoffentlich anstoßen. Ob dies jedoch zu grundlegenden Veränderungen führen wird, würde ich bezweifeln.

Die andere Frage wäre, ob die zunehmende Integration digitaler Technologien staatliche Organisationen fundamental ändern wird. Ich würde denken, dass wir weniger disruptiven Wandel erleben werden als vielmehr schrittweise Änderungen in staatlichen Organisationen. Stefanie Büchner und ich haben uns vor diesem Hintergrund den Fall des predictive policing näher angeschaut. Hierbei handelt es sich um eine Technologie, die die Polizei der Idee nach in die Lage versetzen soll, Gegenden zu bestreifen, für die einige Indikatoren ein höheres Risiko für zukünftige Einbrüche nahelegen. Auch predictive policing ist mit großen Veränderungsversprechen gestartet. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass diese Technologie tatsächlich nur einen kleinen Teil der organisationalen Tätigkeit restrukturiert und diese Restrukturierung keineswegs im Sinne des ursprünglichen Vorgesehenen Zweckes geschehen muss: Technologien werden zweckentfremdet, umgangen oder gleich ganz ignoriert. Wir verstehen daher die Einführung dieser Technologie in die Polizei mit dem Konzept des schwedischen Organisationsforschers Nils Brunsson als routinierte Reform – und eben nicht als transformativen Wandel. Auch wenn sich schwer vom Fall der Polizei auf staatliche Organisationen insgesamt schließen lässt, würde ich denken, dass sich solch ein routinierter Wandel öfter beobachten lasst als radikale Transformationen.

Woran forschen Sie im Moment?

Aktuell untersuche ich gemeinsam mit meiner Kollegin Teresa Löckmann den Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016. Die Arbeit schließt an meine Forschungen zu den polizeilichen Ermittlungen zum rechtsterroristischen sogenannten „Nationalsozialistischen Untergrund“ an. Im Kern interessiert uns, warum die Berliner Behörden die Ermittlungen gegen den späteren Täter vorzeitig einstellten und ob diese Ermittlungen damit als Fall von Behördenversagen gelten müssen. Wir argumentieren dabei, dass der gesellschaftliche Umgang mit Terrorismus stark durch Organisationen geprägt ist und dass man diese Organisationsförmigkeit nachvollziehen muss, wenn man die Dynamik solcher Ermittlungen verstehen möchte. Tut man dies, wird sichtbar, dass polizeiliche Ermittlungen in diesem Bereich mit erheblicher Unsicherheit und hoher Komplexität konfrontiert sind. Beides macht es aus unserer Perspektive unzulässig, solche und ähnliche Fälle einzig als Behördenversagen erklären zu wollen wie dies derzeit ja fast ausnahmslos zu beobachten ist.

Wenn Geld und Zeit keine Rolle spielen würden, wie sehe Ihr ideales Forschungsprojekt aus? Gibt es da Fragen, denen Sie immer schon einmal nachgehen wollten? 

Die drei bisher genannten Themen – Recht und Organisation, digitale Technologien und polizeiliche Ermittlungen – bieten eine Vielzahl an Schnittmengen, die auf den ersten Blick nicht zu sehen sind. So hat der Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz dazu geführt, dass die Sicherheitsbehörden sich zur Terrorismusabwehr verstärkt auf digitale Technologien verlassen, die es vermeintlich erlauben, das Risiko zu bestimmen, das von bestimmten Personen ausgeht. Diese Technologien wiederum operieren – wie die Polizei insgesamt – in einem rechtlichen Bezugsrahmen, der in vielerlei Hinsicht Effekte auf die Arbeit der Organisation Polizei im Bereich Terrorismus hat. Diese Schnittstellen zu erforschen, wäre tatsächlich so etwas wie ein ideales Forschungsprojekt.

Vielen Dank für das Interview und die Zeit, die Sie sich genommen haben.

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