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Forschungsfrage: | „Wie wirken (alltägliche) soziale Isolationserfahrungen auf Menschen mit Gehbehinderungen?“ |
Datenmaterial: | Acht narrative Interviews (Schütze 1983; Küsters 2014) |
Sample: | Menschen mit Gehbehinderung in Deutschland |
Auswertung: | Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring 1985; Mayring & Fenzl 2019) |
Zeitraum: | Januar bis September 2021 |
Forscherin: | Angelika Wetzel |
Anfang des Jahres 2021 – mitten im Covid-19-Lockdown – habe ich mit acht unterschiedlichen Men-schen gesprochen, die ein Merkmal gemeinsam haben: ihre Gehbehinderung.
Dabei stellte ich mir die Frage, inwiefern Menschen mit Gehbehinderungen soziale Isolation in all-täglichen Situationen erfahren.
Herausgekommen sind Interviews, gestückt mit erschütternden Erfahrungsberichten, die eine Ge-schichte von einer Form der Diskriminierung erzählen, die leider noch zu wenig berücksichtigt wird.
Dabei ist die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, der sogenannte Ableismus, allge-genwärtig und brisant.
Innerhalb der Perspektive von Aktivistinnen und Allies wird Ableismus bereits aufgedeckt. In aktu-ellen Beispielen werden dabei unter anderem vor allem ableistische, relativierende Sprachfiguren kritisiert. Erst kürzlich ermordete eine Frau mehrere Bewohnerinnen des Thusnelda-von-Saldern-Hauses in Potsdam-Babelsberg auf brutalste Weise, während die Medienlandschaft sich in die Lage der Täterin versetzte und Leiderlösung als mögliches Motiv in Erwägung zog. Ebenso wurden die behinderten Menschen abfällig als „besonders Schutzlose“ bezeichnet (Kräher und Krauthausen 2021). Die Historie rund um Euthanasie im Nationalsozialismus und die Aktion T4 müssen nicht unbedingt bekannt sein, um zu wissen, dass diese Formulierungen problematisch sind: Ein kurzes Einlesen in die Thematik ist aber in jedem Fall empfehlenswert.
Dass es sich hierbei um strukturelle Gewalt und Machtausnutzung gegenüber marginalisierten Gruppen und keine „tragischen Einzelfälle“ handelt, können ähnliche Vorfälle in Bad Oeynhausen und Sinzig zeigen. Ableismus kann sich dabei beispielsweise in der erhöhten Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderungen zeigen. Insbesondere Frauen mit Behinderungen erfahren po-tenziell häufiger (sexuelle) Gewalt.
Menschen mit Behinderungen sind gleichzeitig eine der Risikogruppen, die in besonderem Maße von sozialer Isolation betroffen sind. Dabei können strukturelle Gegebenheiten und Bedingungen wie das Fördersystem, die Beschäftigung in Werkstätten unter Mindestlohnniveau und fernab des ersten Arbeitsmarktes eine wichtige Rolle spielen, doch die Diskriminierung von Menschen mit Be-hinderungen, der sogenannte Ableismus, ist auch in alltäglichen Situationen allgegenwärtig.
In diesem Beitrag sollen nun die zentralen Themen der Erzählungen aus den Interviews zusam-mengefasst erläutert werden, denn um die Lebensrealitäten und Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen zu verstehen, ist es unumgänglich, mit ihnen zu sprechen statt über sie.
Zunächst zeigt sich die bereits erwähnte Gewaltbetroffenheit von Menschen mit Behinderungen auch in den Interviews: Menschen mit Behinderungen können aufgrund ihrer Marginalisierung Gewalt in physischer wie psychischer Form erfahren.
Mobbing und (sexuelle) Ausnutzung wie auch Gewalt können dabei Beispiele für Erfahrungen sein, die Personen aufgrund ihrer Behinderung machen, so auch Bente und weitere Interviewte, die von Mobbing- und Ausgrenzungserfahrungen in der Schulzeit berichten sowie von physischer, psychi-scher und verbaler Gewalt:
das hat dann eben dazu geführt, dass das so meine soziale- mein sozialer Kontakt wurde, der (..) ja, so am ehesten noch ne intensive Bedeutung für mich hatte und der das dann aber auch ausgenutzt hat, um mich grad durch emotional zu manipulieren und später das auch auf ne sexuelle Art und Wei-se sozusagen auszunutzen.
(Bente, d20, Pos. 3) Um die Ursache der erhöhten Gewaltbetroffenheit zu analysieren, können vorurteilsbasierte Moti-ve herangezogen werden und einen Ansatz liefern. Erfahrene Gewalt löst nicht selten diskreditie-rende Reaktionen aus: z.B., wenn Menschen mit Behinderungen bemitleidet und infantilisiert („Du Arme!“, „wie tragisch!“) bzw. verniedlicht werden, wird damit impliziert, dass sie schwach, schutz-/ wehrlos seien. Solche Vorurteile gibt es in vielerlei Hinsicht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sollen an dieser Stelle einige Beispiele genannt werden. Ein Trugschluss, von dem ebenfalls mehrere Interviewte berichten, dass sie ihn häufiger erleben, ist, wenn andere Menschen davon ausgehen, dass es sich bei der Begleitung eines behinderten Menschen um einen Betreuerin handelt. Sie tun dies, ohne auf die Idee zu kommen, dass das Verhältnis auch eine Partnerschaft oder Freundschaft sein könn-te. wenn ich mit ner Freundin oder damals auch mit meinem […] Exfreund unterwegs war, […] gingen [alle] davon aus, er [sei] mein Betreuer, alle gingen davon aus! Und alle […] sprachen immer nur mit ihm über mich, »Was hat sie denn?«, »Wie geht’s ihr denn?«, anstatt mich selber zu fragen, reden irgendwie immer alle mit meiner Begleitung […]. [D]as machen selbst Ärzte, also ich hatte auch nen Arzt, der hat ausschließlich mit meinem Exfreund gesprochen anstatt mit mir […]. Also das ist halt, was irgendwie nervt, dass immer alle denken, meine Begleitung wäre meine Betreuung oder Pfleger (Anette, w34, Pos. 70)
Wie dieses Zitat auch zeigen kann, verschränken sich mehrere Vorurteile oft in einem Atemzug. So wird Anette als behinderte Frau in dieser Situation abgewertet, infantilisiert, entmündigt und für „unfähig“ gehalten, was wiederum Mitleidsmotive in sich trägt.
Wie mit dieser Stelle deutlich wird, ist das Ganze wie so oft komplizierter, als zunächst geahnt und eine Unterstellung, wie jene, dass Menschen mit Gehbehinderungen nicht in der Lage seien, sich zu verständigen und auszudrücken, sich selbst zu vertreten und als eigenständige Individuen aufzutre-ten, impliziert weitere Unterstellungen, die damit in Zusammenhang stehen und für das Verständ-nis von sozialer Isolation bzw. Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen relevant sein werden.
Manchmal ergeben die diskriminierenden Situationen, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, keinen Sinn und erscheinen gar willkürlich:
Also ich war mal in so ner Arbeitsamt-Maßnahme gewesen, wo ich da auch als arbeitslos gemeldet war und ich kam an und die haben mich gleich zu der anderen Dame geschickt, die auch ne Behinde-rung hatte und die sollte mir dann alles erklären und ich dachte schon »Warum soll die’s mir denn erklären, können Sie mir das nicht erklären, wo ist denn das Problem?«, also davon, wenn man ir-gendwohin kommt erstmal an jemand anderes abgeben, der auch ne Behinderung hat, das ist mir aufgefallen, also so, also so nach dem Motto »die sind gehbehindert, die verstehen sich, die kommen miteinander-«, warum-, und die Aufgabenbereiche können kann mir auch jeder andere erklären, aber nein, man wird gleich weitergereicht an den anderen mit der Behinderung, das finde ich irgendwie nervig. Keine Ahnung, weeß ich nicht. (Lacht) Also, das ist mir so aufgefallen.
(Anette, w34, Pos. 68) Das Vorurteil, dass behinderte Menschen „unter sich gehören“ zieht sich durch verschiedene Situa-tionen und kann wie oben eher unterschwellig unterstellt werden, oder sehr direkt zur Sprache gebracht werden: [I]ch musste am Eingang n Moment warten, weil mein Mann die Karten geholt hat und da fuhr jemand oder ging jemand an mir vorbei und kam nicht direkt vorbei, weil ich wohl ihm zu viel Platz blockiert hab oder was und in dem Moment sachte er dann »Du gehörst hier nicht hin, bleib- geh dahin, wo du wohnst« (Eda, w44, Pos. 64)
In dem oben genannten Beispiel impliziert der Kommentar „geh dahin, wo du wohnst“ die Absicht, behinderte Menschen innerhalb von Wohnkonstellationen zu denken, die von der nicht-behinderten Gesellschaft isoliert werden – in Wohnheimen beispielsweise. Die Annahme, dass Menschen mit Behinderungen eine eigene Gruppe bilden, eine homogene und ansonsten gesichts-lose Masse, weil sie sich allein dadurch auszeichnet, dass sie „die Behinderten“ seien, ist dabei ein Prozess, der uns aus der theoretischen Soziologie als Othering bekannt ist. Hierbei wird eine Grup-pe Menschen, die sich durch ein (äußeres, sichtbares) Merkmal von der Mehrheitsgruppe unter-scheidet, stigmatisiert.
Behinderten Menschen wird darüber hinaus unterstellt, sie würden übertreiben und jammern und ihre Sorgen und Probleme werden relativiert oder ironisiert und heruntergespielt.
wenn ich mich dann mal über irgendwas aufgeregt habe, dann wurde gleich gesagt »Ach, komm, sei doch still, kannst froh sein, dass du hier überhaupt hier sein darfst« und das sind so (lacht) sind so Sachen, wo dir dann halt auch einfach mal joa der Mund verboten wird, ne? Und äh du dann gesagt kriegst so ganz klaar, »Sei froh, eigentlich wollen wir dich hier gar nicht«, soo durch die Blume durch, »aber wir müssen jaa« (lacht), äh, ja.
(Gemma, w22, Pos. 30) So können diese Erfahrungen internalisiert werden und dazu führen, dass Menschen mit Behinde-rungen sich selbst auch als jammernd oder eine Last für andere wahrnehmen und das Gefühl ha-ben, sie würden zu sensibel sein und übertreiben. mit acht bis zehn war ich schon echt oft auch sehr traurig, auch wenn Kindergeburtstage ganz oft ir-gendwo waren, ääh, wo du nicht mit hin konntest oder halt dann nur doof dagesessen hast, ähm, weil du wolltest natürlich auch den anderen nicht unbedingt zur Last fallen, also ich glaub wenn man so krank ist und mit einer der wenigen oder der einzige im Umfeld ist, fühlt man sich da oft so, als wär das für viele einfach ne Belastung und dann fängt man vielleicht auch an, sich selbst zu isolieren, weil du denkst du willst denen dann nicht im Weg stehen, dass sie irgendwas Cooles machen (Dara, d21, Pos. 22)
Wenn Menschen mit Behinderungen isoliert und abgewertet werden, dann können die negativen Gefühle, Belastungen und das geminderte Selbstwertgefühl dafür sorgen, dass sie diese Haltung auch gegen sich selbst richten können. Damit wird die Verantwortung für die negativen Reaktionen und Nachwirkungen auf sich selbst übertragen und es findet eine Täterinnen-Opfer-Umkehr statt: wo ich wirklich dann auch angefangen hab mich selber dafür nicht zu mögen, […] dass ich eben nicht tanzen konnte wie die andern (Hedwig, w24, Pos. 10)
Wenn marginalisierte Menschen die Ursache für die Folgen ihrer Marginalisierung stattdessen in sich selbst suchen, versuchen sie einem Bild genügen zu wollen, dem sie niemals entsprechen kön-nen. Denn egal, wie sehr sie versuchen, dem Ideal und der Norm gerecht zu werden, das Stigma wird nicht unsichtbar. Unrealistischer Perfektionismus ist beispielsweise eine Folge von internali-siertem Ableismus.
„und zwar ich binn, also ne sehr perfektionistische Person, […] dieser Perfektionismus hat sich durch diesen internalisierten Ableismus halt vertausendfacht teilweise […] Ich hab so Angst, irgendwas falsch zu machen, dass ich nach jedem zweiten Satz dann gucke und dann ähm redigieren muss und das macht- ich bin gut in dem was ich mache, aber es macht mir oft einfach überhaupt keinen Spaß, weil ich nicht-ich kann nicht locker lassen. Ich- ich bin da soo perfektionistisch, so akribisch, dass es schon (lacht), also schon beinahe irgendwie ja mir-, mir alles nimmt, was es einem geben kann, so das Gefühl, wenn man was kann und in-, in was gut drin ist, dann, jaa. Manchmal ist es auch so, […] dass ich gar nicht […] stolz auf mich sein kann, […] weil ich so Angst hab, teilweise irrationale Angst vor irgendwelchen Konsequenzen, die meistens dann nicht kommen, weil meistens-. Ich-, ich mach Dinge gerne viel komplizierter als @sie eigentlich sind@ und-und das hat schon auch viel mit dem Ableismus zu tun, dass man- oder dass ich das Gefühl habe, ich muss jetzt nach außen hin n perfektes Bild tragen und ähm jaa darf, darf nicht einfach auch mal zulassen, dass-, dass ich auch-, dass ich n @Mensch bin@ (lacht)“
(Hedwig, w24, Pos. 21-22) Die Idee, individuelle Kompensations-, Präventions- und Bewältigungsarbeit selbst leisten zu müs-sen, kann mitunter so fest in die Lebensrealität integriert sein, dass es schwerfällt, diese als Aus-druck von internalisiertem Ableismus zu identifizieren. Dabei impliziert der Ansatz, Eigenverant-wortung bei dem Umgang mit einem diskriminierenden Umfeld zu erwarten, dass das Problem nicht bei anderen Menschen läge, die sich unsensibel und diskriminierend verhalten, sondern bei der marginalisierten Person selbst – das ist höchst problematisch! Ja, ich hab dann eben viel daran gearbeitet, [wieder] selbstständig […] zu werden, dass ich diese klei-nen Hilfestellungen alle nicht mehr brauche, hab dann auch ein bisschen an meiner Persönlichkeit gearbeitet (Cedric, m30, Pos. 8)
Es liegt nicht an den marginalisierten Menschen, ihre Einstellung oder Persönlichkeit an die Um-stände anzupassen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Diskriminierung schlicht und einfach nicht mehr vorherrschen kann.
Die Strukturen systemischer Isolation bleiben erhalten, wenn diese Formen der Vorurteile und des internalisierten Ableismus bestehen und dafür sorgen, dass zwischen marginalisierten und nicht-marginalisierten Menschen kein Kontakt besteht.
Zum Thema Ableismus gibt es insgesamt noch so viel zu sagen und sowohl die Masterarbeit wie auch dieser Beitrag dazu kratzen gerade mal an der Oberfläche. Daher ist es wichtig, dass das The-ma mehr Anklang in der breiten Masse findet, dass es Allies gibt, die die Stimmen von Menschen mit Behinderungen verstärken, ohne sie dabei zu übertönen.
Angelika Wetzel