Das System der 24-Stunden-Pflege

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In Deutschland leben derzeit rund 4,1 Millionen Pflegebedürftige wovon 80% zu Hause betreut werden. Wiederum werden davon mehr als die Hälfte allein von Verwandten versorgt. Doch auch Angehörige haben nicht immer die Zeit oder auch Lust rund um die Uhr für die zu pflegende Person da zu sein. Weshalb günstige Betreuungsdienstleistungen in Anspruch genommen werden. Daraus hat sich der Markt der 24-h-Pflege von ausländischen Pflegekräften in Privathaushalten eröffnet, der seit Jahren kontinuierlich wächst. Meist handelt es sich um osteuropäische Migrant*innen, überwiegend Frauen, die für einen bestimmten Zeitraum rund um die Uhr pflegebedürftige Menschen betreuen. In der wissenschaftlichen Literatur ist dabei auch oft die Rede von „Live-ins“, also Personen in häuslichen Dienstleistungen, die durchgängig im Privathaushalt anwesend sind und dort arbeiten und auch vorübergehend wohnen. Der Tätigkeitsbereich erstreckt sich über die alltäglichen Belange wie Hauswirtschaft, (Grund-)Pflege oder Mobilisation. Im Rotationsmodell verbringen sie einige Wochen bis Monate in einem Haushalt und werden dann von einer Pflegekraft abgelöst und kehren für einen ähnlich langen Zeitraum in ihr Herkunftsland zurück.

Es ist nicht bekannt wie viele in diesem Modell beschäftigt sind, da bis heute keine Registrierung der tatsächlichen Arbeitsverhältnisse erfolgt ist. Allerdings wird geschätzt, dass zwischen 300.000 – 600.000 Migrant*innen bei der Betreuung im häuslichen Bereich tätig sind. Doch wie kann es sein, dass dieses Modell in Deutschland toleriert wird und sich so ein großer Markt etablieren konnte, obwohl viele Aspekte gegen deutsches Gesetz sprechen? Beispielsweise, dass laut Arbeitszeitgesetz in Deutschland eine Person im Durchschnitt nicht mehr als 8 Stunden werktags und nicht mehr als 48 Stunden die Woche arbeiten darf und zudem eine ununterbrochene Ruhezeit von 11 Stunden nach einem Arbeitseinsatz erfolgen muss.

Meist werden die Pflegekräfte durch Vermittlungsunternehmen mit deutschen Kund*innen in Kontakt gebracht. Wovon sich inzwischen ziemlich viele auf dem Markt etabliert haben wie zum Beispiel SenioVita, Lebenshilfe24 oder Pol-Pflege24. Dieses Modell der Entsendung ist am verbreitetsten. Dabei sind die Arbeiter*innen bei einem Arbeitgeber im Heimatland angestellt und sozialversichert. Offiziell sind in den Verträgen 40-Stunden-Wochen vereinbart, jedoch wird auf der Homepage der Agentur mit „Rund um die Uhr“ Betreuung geworben. Die Grenzen zwischen Arbeits-, Bereitschaft-, und Ruhezeiten verschwimmen.  Da ihr Arbeitsort gleichzeitig ihr Wohnort ist und somit sich Arbeit und Freizeit kaum voneinander trennen lassen. So scheint die Pflegekraft zu jeder Zeit verfügbar und auch während der Nacht sind Arbeitseinsätze somit die Regel. Es wird ausgenutzt, dass grade im Privatbereich kaum bzw. keine staatlichen Kontrollen erfolgen. Außerdem finden so auch keine Qualitätskontrollen statt, wie beispielsweise bei der Versorgung von Pflegebedürftigen durch Pflegedienste, sondern lediglich die Familie oder die zu pflegende Person kann die Arbeit kontrollieren. Die Live-ins verdienen zwischen 1500 und 1700 Euro brutto monatlich, gleichzeitig zahlen die Kund*innen um die 2200 – 3000 Euro für eine 24-h-Pflegekraft. Der Preis ist dabei von verschiedensten Faktoren abhängig wie beispielsweise der Qualifikationen und den Anforderungen an die Pflegekraft und auch ebenfalls davon, welche Deutschkenntnisse gewünscht sind. Zzgl. kommen noch Fahrtkosten, Kost und Logis. So bleibt lediglich ein kleiner Teil des Geldes tatsächlich bei den Pflegekräften – der Großteil verbleibt bei den Agenturen.

Außerdem gibt es noch das Modell der Selbständigkeit bei dem die Pflegekraft an keine gesetzlichen Arbeitszeiten und Mindestlohn gebunden ist. Wenn aber nicht entsprechend Handlungsspielraum bei Selbstständigen vorliegt, so handelt es sich um eine Scheinselbstständigkeit, die auch verboten ist. Was ebenso gegen geltendes Recht verstößt, ist das informelle Arbeitsverhältnis bzw. die Schwarzarbeit, bei dem keine schriftliche Vertragsgrundlage besteht und auch wenn dieses stark risikobehaftet ist, wird davon ausgegangen, dass ein großer Teil sich zu diesem Modell zählt.

Der Staat duldet seit Jahren diese Grauzone. Professorin Helma Lutz spricht von einem „komplizenhaften Modell“. Es ist bekannt, dass es einen großen Bedarf an Pflegekräften gibt, die in Privathaushalten Pflegebedürftige betreuen, weshalb sich dabei eine große Versorgunglücke durch Migrant*innen geschlossen hat und sich so ein riesiger Markt entwickeln konnte, der nicht vom Staat kontrolliert wird und so prekäre Arbeitsbedingungen fördert.

Von den ausländischen Pflegekräften selbst kommt hierzu kein Widerstand, da sie mit der Arbeit in der deutschen Häuslichkeit und der Arbeit in ihrer eigenen Familie genügend beschäftigt sind. Bei Problemen wenden sie sich höchstens an die Agenturen. Dies ist ebenfalls ein wichtiger Punkt. Sie haben schlicht keine zeitliche und emotionale Kapazität sich zu mobilisieren und für sich einzustehen. Zudem sind sie in Deutschland recht sozial isoliert und haben eher wenig Kontakt zu Kolleg*innen um sich vernetzen zu können. Ein weiterer Punkt ist, dass Gewerkschaften der Thematik wenig Aufmerksamkeit schenken, da in diesem Arbeitsbereich die umfassende öffentliche Skandalisierung und der prekären Arbeitsbedingungen ausbleibt. Darüber hinaus sind viele froh einen Job in Deutschland bekommen zu haben, um so die Familie in der Heimat wenigstens etwas zu unterstützen. Denn auf vielen lastet ein enormer Druck Geld zu verdienen, da oft das Gehalt des Partners/der Partnerin nicht ausreicht oder sie Alleinverdiener*innen sind und es im Herkunftsland an Verdienstmöglichkeiten fehlt. Viele Migrant*innen haben einen hohen Bildungsgrad, aber finden im eigenen Land keine Arbeit. Obendrein möchten sie ihren Kindern einen guten Zugang zur Bildung ermöglichen, da in vielen Ländern das Bildungssystem privatisiert ist.

Wenn man sich die sozio-demografischen Entwicklungen in Deutschland anschaut, dann wird deutlich, dass zukünftige Generationen vor neue Herausforderungen gestellt werden. Insbesondere der Anteil der älteren Bevölkerungsgruppen steigt in den nächsten Jahrzehnten überproportional stark an. Trotz Zuwanderung und einer steigenden Geburtenrate in Deutschland kommt es zu einer allgemeinen Alterung der Bevölkerung. Gemäß des Statistischen Bundesamtes wird der Anteil an Menschen in einem Alter von mindestens 67 Jahren bis zum Jahr 2039 von 15,9 Millionen (2018) auf insgesamt 21 Millionen steigen. Generell stellen die über 65-jährigen im Zeitverlauf einen immer größer werdenden Anteil in der Gesamtbevölkerung dar. So waren es 1991 15 Prozent, die die Gesamtbevölkerung ausmachten und 2020 bereits 22 Prozent. Insbesondere der Gesundheits- und Pflegesektor muss sich an die zum Teil dramatischen Entwicklungen anpassen. Mit der Zunahme der älteren Bevölkerungsgruppen steigt auch der Anteil an pflegebedürftigen Menschen. Zudem fehlen bereits 200.000 Pflegekräfte und 2030 werden es circa 500.000 Pflegekräfte sein.  Zusätzlich wünschen sich viele Menschen eine Betreuung in den eigenen vier Wänden. So erscheinen Migrant*innen essenziell für Pflegebedürftige und deren Angehörige. Dies rechtfertig jedoch nicht die derzeitigen prekären Arbeitsbedingungen in der 24-Stunden-Pflege. Da aber die Nachfrage steigt, ist davon auszugehen, dass sich der Markt weiter ausdehnen wird. Solange der politische Wille fehlt, sich mit den Rahmenbedingungen und der Problematik auseinanderzusetzen, werden die Bedingungen der Pflegekräfte so verbleiben und die Chance auf eine faire und gute Pflege wird vertan. Hier liegt es also nun in der Hand von Politik und Regierung, Lösungen für den Pflegebereich und der damit einhergehenden ‚Rund um die Uhr Pflege‘ zu finden.

Nina Heinsch

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